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Wofür du stirbst

Wofür du stirbst

Titel: Wofür du stirbst
Autoren: Elizabeth Haynes
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traumatische Erfahrung gewesen sein, den Vater in einem so schwierigen Alter zu verlieren.«
    Ich verstand weder, was sie mit schwierigem Alter meinte, noch mit traumatisch. »Das Leben geht weiter«, hatte ich gesagt und mit den Achseln gezuckt.
    »Ja, aber trotzdem – das ist schon sehr traurig.«
    »Das Leben ist nur eine Art des Toten, und eine sehr seltene Art.«
    »Colin, das klingt ja wie ein Zitat. Wer hat das gesagt?«
    »Ich. Na ja, eigentlich Nietzsche.«
    Sie findet mich seltsam, das tun sie alle. Am Anfang, als ich gerade bei der Gemeinde anfing, waren alle noch ziemlich gesprächig. Jetzt habe ich das Gefühl, dass sie mir eher aus dem Weg gehen, es vermeiden, sich mit mir zu unterhalten – außer, die Umstände zwingen sie dazu. Doch selbst dann begegnen sie mir mit Misstrauen. Ich denke, Martha betrachtet mich als eine Art persönliche Herausforderung.
    Das Begräbnis meines Vaters hatte an einem Samstag stattgefunden, damit auch seine Arbeitskollegen daran teilnehmen konnten. Es gab eine ziemlich heftige Auseinandersetzung darüber, ob ich auch dabei sein sollte oder nicht. Ich erinnere mich an eine Unterhaltung zwischen meiner Mutter und einer Freundin ein paar Tage vor der Trauerfeier.
    »Du weißt, wie er ist«, sagte meine Mutter. »Er macht sich immer so viele Gedanken.«
    »Aber er ist doch fast erwachsen, Delia. Vielleicht verarbeitet er es dann besser.«
    Am Ende gab meine Mutter nach – möglicherweise einfach deshalb, weil sie keinen Babysitter für mich auftreiben konnte. Am Ende wurde es zu einem dramatischen Ereignis, und ich war richtig froh, dass ich die Gelegenheit bekommen hatte, daran teilzunehmen.
    Ich hatte keine angemessene Kleidung, also zog ich meine Schuluniform an, sogar das Jackett und die Kappe. Es war glühend heiß, die Sonne knallte unerbittlich herunter, und natürlich trug die versammelte Trauergemeinde Schwarz. Meine Mutter trug sogar ihren schwarzen Mantel mit dem Nerzkragen, den mein Vater ihr in New York gekauft hatte. Auf dem Weg zur Kirche kamen alle fast um vor Hitze, erfuhren während der Messe ein wenig Erleichterung und kamen dann bei der Beerdigung erneut vor Hitze fast um. Ich schmorte und schwitzte ausgiebig – mein Hemd war unter meinem Jackett völlig durchnässt. Ich stand neben meiner Mutter und dachte an etwas, das ich gelesen hatte: dass der Leichnam von König Henry VIII., als man ihn von Whitehall nach Windsor transportiert hatte, von Verwesungsgasen so aufgebläht worden war, dass nachts der Sargdeckel aufsprang. Am nächsten Morgen stellte sich heraus, dass Hunde sich am Aas des Königs gütlich taten. Und das im Winter! Wie sah wohl der Leichnam meines Vaters jetzt im Hochsommer aus? Dann überlegte ich aber, dass sein Körper vielleicht noch gefroren war, weil er wegen der ausstehenden Obduktion drei Wochen in einem Kühlfach in der Leichenhalle gelegen hatte und erst jetzt langsam im Sarg auftaute wie Schokoladeneis. Daraufhin hatte ich den unwiderstehlichen Drang, das Holz des Sarges zu berühren und zu fühlen, ob es kalt war. Während der Pfarrer also weiterbrabbelte, machte ich einen Schritt vor zum Sarg, der auf einem grünen Plastikrasen stand, wie man ihn auch auf den Ständen der Gemüsehändler sieht. Meine Mutter war wegen meiner plötzlichen Bewegung in Panik geraten, war nach vorne getaumelt und hatte ihre Hand nach mir ausgestreckt, um mich bei den Schultern zu packen. Doch dabei stolperte sie über den unebenen Boden und schubste mich, sodass wir beide nur ein paar Zentimeter vor dem offenen Grab auf der Erde landeten. Der Schock, vielleicht die übermäßige Hitze und ihr lächerlicher Mantel, vielleicht aber auch der Gin, den sie vor dem Martyrium zur Stärkung getrunken hatte, brachten sie zum Kotzen, als die Trauergemeinde herbeieilte, um ihr wieder auf die Füße zu helfen. Ich musste unwillkürlich über die mit Kotze besprühten Leute lachen, während meine Mutter sich immer weiter erbrach. Ein paar Trauergäste mussten selbst würgen. Und das Gesicht des Pfarrers …
    Beim folgenden Leichenschmaus war es das Thema Nummer eins. Alle nur erdenklichen Gründe wurden in Erwägung gezogen: dass meine Mutter ohnmächtig geworden sei, und ich versucht hatte, sie aufzufangen; dass ihr plötzlich schlecht geworden sei, und sie mich angerempelt habe; dass einer oder sogar alle beide versucht hatten, sich vor Gram ins Grab zu stürzen. Meine Mutter war blass und weinte, füllte ihren Blutkreislauf mit noch mehr Gin, fächelte
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