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Wo Träume im Wind verwehen

Wo Träume im Wind verwehen

Titel: Wo Träume im Wind verwehen
Autoren: Luanne Rice
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Mannes ergriff, streiften ihre Finger Joes Bild. »Was hat mein Daddy getan?«, sagte sie abermals.
    »Er hat meine Familie zerstört«, antwortete der Mann schluchzend. Dann hob er die Waffe an die Schläfe und drückte ab.
    Die Explosion gellte in Carolines Ohren. Der Geruch nach brennendem Schießpulver löste ein Würgen in ihr aus, und das Gewicht des fallenden Mannes riss sie zu Boden. Blut strömte aus seinem Mund und aus dem Einschussloch im Kopf. Sein Körper, der auf ihr lag, schnürte ihr die Luft ab. Ihre dunklen Haare waren voller Blut. Sie schrie um Hilfe, schrie nach ihrer Mutter, schrie vor Entsetzen.
    Ihr Blick war die ganze Zeit auf den Jungen geheftet. Joe Connor, sechs Jahre alt, dessen Foto auf dem Fußboden direkt neben ihr lag, lächelte sie an. Ein kleiner Junge, der seinen Vater nie wieder sehen würde. Er hatte, statt Caroline, Clea oder ihre Mutter und das ungeborene Baby umzubringen, seinem eigenen Leben ein Ende gesetzt, weil seine Frau ihn nicht genug liebte.
    Als es Augusta Renwick endlich unter Tränen gelang, den Körper des Mannes wegzuziehen, nahm sie das verstörte Mädchen und drückte es an ihre Brust. Sie wischte Caroline das Blut aus dem Gesicht und bemühte sich zu verstehen, was sie stammelte, als sie auf das Foto des kleinen Jungen deutete.
    »Ich will meinen Daddy«, schluchzte sie. »Ich will, dass mein Daddy kommt.«

30. Dezember 1969
Lieber Joe Connor,
könnten wir nicht Freunde sein? Weil Dein Vater bei uns im Haus war und mir Dein Foto gezeigt hat. Es tut mir Leid, dass er tot ist, sehr sehr Leid.
    Deine
Caroline Renwick

14. Januar 1970
Liebe Caroline Renwick,
mein Vater hat Dir mein Foto gezeigt? Er war nett und hat viel gelacht. Wir haben oft Baseball in Cardine Field gespielt. Ich bin froh, dass Du bei ihm warst, als er den Herzanfall hatte.
    Dein Freund
Joe Connor

[home]
    1
    Juni 2000
    E s war der längste Tag im Jahr. Am Horizont über dem Meer ging der Vollmond auf. Der alte Hund lag neben Caroline im Gras, den Kopf auf den verschränkten Pfoten. Caroline, ihre Schwestern und ihre Mutter hatten es sich in den weißen Korbsesseln gemütlich gemacht. Doch die Idylle war trügerisch, die Geister, von denen die Familie heimgesucht wurde, gingen um.
    Caroline Renwick kam sich vor wie eine Stammesmutter, dabei war sie nur die älteste der drei Schwestern. Sie liebte ihre Familie. Sie waren stark, aber auch verletzlich wie normale Sterbliche, Frauen, die ein ungewöhnliches Schicksal verband. Bisweilen hatte sie das Gefühl, zu viel Zeit mit ihnen zu verbringen, und das Bedürfnis, ihren Schäfchen, die ständig aus der Herde ausscherten, den rechten Weg zu weisen. Wenn sie sich dabei ertappte, bestieg sie das nächste Flugzeug und begab sich auf Geschäftsreise. Es spielte keine Rolle, wohin, nur weit genug weg, um ihren Seelenfrieden wiederzuerlangen. Doch im Augenblick war sie zu Hause.
    Als der Mond aufging, schien er kleiner zu werden, verlor seine rosige Farbe und schimmerte kalt und silbern. Unruhig hob Homer den Kopf von den Pfoten und verfolgte hechelnd das Schauspiel. »Ach Mädchen«, seufzte Augusta Renwick, als der Mond hoch am Himmel stand. »Ist das nicht unglaublich?« Sie blickte verträumt auf die Meerenge von Long Island hinaus.
    »Vollmond, und das am längsten Tag des Jahres. Das ist bestimmt ein gutes Omen«, sagte Caroline.
    »Du mit deinem Aberglauben«, entgegnete Clea neckend. »Vollmond, Sternschnuppen …«
    »Vergiss das Nordlicht nicht«, fügte Skye hinzu. »Caroline hat mir erklärt, wie man es am Himmel findet. Das war am letzten Abend, an dem es mir wirklich gut ging.«
    »Was?«,
fragte Augusta.
    »Mom …«, sagte Caroline warnend.
    »Am letzten Abend, an dem es mir wirklich gut ging«, wiederholte Skye bedrückt. Sie stolperte ein wenig über die Worte, und Caroline fragte sich insgeheim, wie viel sie schon getrunken hatte.
    »Jetzt
geht es dir doch gut, Liebes. Mach dich nicht lächerlich. Wie kannst du so etwas behaupten?«, entgegnete Augusta trotz Carolines Warnung.
    »Mit Leichtigkeit!«, antwortete Skye und blickte den alten Homer an.
    »Mom …«, begann Caroline abermals und zermarterte sich das Hirn, wie sie das Gespräch in unverfängliche, heitere Bahnen lenken könnte.
    »Ach Skye! Bitte hör damit auf, wenigstens heute Abend!« Augusta sah gekränkt aus. »Schließlich wollten wir die Sommersonnenwende feiern! Unterhalten wir uns lieber wieder über die Sterne …«
    »Und das Nordlicht«, ergänzte Clea
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