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Wo ich zu Hause bin

Wo ich zu Hause bin

Titel: Wo ich zu Hause bin
Autoren: Anselm Gruen
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gewöhnlich als den Herkunftsort, in dem wir geboren und aufgewachsen sind. Wir haben eine besondere Beziehung aufgebaut zu diesem Ort. Er ist uns lieb und teuer geworden. Wir können oft gar nicht genau sagen, was uns das Gefühl gibt, heimzukommen, wenn wir an den Ort unserer Herkunft kommen. Wir fühlen uns daheim, geborgen. Alles ist uns vertraut. Alles erinnert uns an die eigenen Wurzeln. Heimat schenkt Wurzeln. Wir haben das Gefühl, dass wir aus der Kraft dieses Ortes leben und aus der Kraft der Menschen, die hier gelebt haben. Sie alle geben uns Anteil an ihren Wurzeln. Offensichtlich sind die ersten Tage, Wochen und Monate eines Kindes für sein Werden entscheidend. Es nimmt mit offenen Augen und Ohren alles auf, was sich ihm darbietet. Und so, wie die Welt sich ihm darbietet, wird sie ihm vertraut.
    Ich bin im Januar 1945 in Junkershausen, einem kleinen Dorf in der Rhön mit nur 100 Einwohnern, geboren. Mein Vater war im Krieg und hatte über seinen Bruder, der Mönch in Münsterschwarzach war, eine Möglichkeit gefunden, seine Frau und seine Schwägerin mit insgesamt sieben Kindern dort bei Bauern unterzubringen. Im August 1945 fuhren wir mit einem Holzvergaser-Lastwagen zurück nach Lochham, wo meine Eltern und Geschwister schon vorher wohnten. Obwohl ich also keine bewusste Erinnerung an Junkershausen habe, erlebe ich an diesem Ort doch etwas, das mir vertraut ist. Das gilt nicht nur für die Sprache, sondern auch für die Gerüche und für die Ausstrahlung, die von diesem kleinen Ort ausgehen. Viele andere haben mir ähnliche Erfahrungenerzählt. Die ersten Eindrücke prägen sich tief in unsere Seele ein. Und wir können gar nicht mehr genau erklären, was sie in uns hervorrufen. Aber da ist offensichtlich etwas von dem, was Bloch mit dem »Hineinscheinen in die Kindheit« meint.
    Carl Jacob Burckhardt, ein Schweizer Diplomat, Essayist und Historiker, definiert die Heimat als »den Ort des tiefsten Vertrauens, der tiefsten Ruhe, den Ort, der die Ruhe des Vertrauens schenkt« 2 . In der Heimat ist einem alles vertraut. Da hat man als Kind Vertrauen ins Leben gelernt. Das Vertraute des Ortes, der Verhaltensweisen seiner Bewohner, die vertraute Sprache, die vertrauten Rituale der Dorfgemeinschaft, aber auch der Kirche, die vertrauten Feste, all das hat das Vertrauen ins Leben gestärkt. All das wirkt in uns nach, wenn wir an die Heimat denken. Heimat ist der Raum des Vertrauens, in dem wir zu dem geworden sind, der wir heute sind. Wenn wir an die Heimat denken, denken wir immer auch an die Ruhe, die die Heimat ausgestrahlt hat. Da war noch nicht die Hektik von heute. Da hatte man noch Ruhe, um zu spielen, miteinander zu sprechen und die gewohnten Feste zu feiern.
    Wenn ich selber im Urlaub die Wege durch den Wald nach Maria Eich gehe, die ich mit meinem Vater öfter gegangen bin, dann ist es nicht nur der schöne Wald, sondern es tauchen all die Erinnerungen an die Menschen auf, die mich hier geprägt haben, von denen ich Liebe und Zuwendung erfahren habe. Inzwischen ist mir Lochham, der Ort, an dem ich groß geworden bin, nicht mehr der eigentliche Heimatort. Inzwischen bin ich seitmehr als fünf Jahrzehnten in Münsterschwarzach, zuerst war ich im Internat und dann im Kloster. Wenn ich in unserer Bachallee spazieren gehe, dann fallen mir all die Mitbrüder ein, mit denen ich hier gewandert bin, aber auch diejenigen, die die Abtei geprägt haben. Dieser klösterliche Wanderweg, der nur uns Mönchen vorbehalten ist, erinnert mich an die Wurzeln meines klösterlichen Lebens und an all die Menschen, die für mich in den letzten Jahrzehnten wichtig waren. Das waren nicht nur Mitbrüder, sondern auch Gäste und Freunde, die mich hier in der Abtei besucht haben und mit denen mich eine tiefe Freundschaft verband oder verbindet. Heimat ist also nie nur ein äußerer Ort, sondern der Ort, der mich an die Menschen erinnert, die mich geprägt und genährt haben und aus deren Verbundenheit ich heute lebe. Dann erinnert mich alles an diese Menschen: der Geruch von Heu, das Singen der Vögel, das Rauschen des Windes, das Licht, das durch die Bäume einfällt und den Bach erglänzen lässt. Mit allen Sinnen nehme ich etwas wahr, was ich letztlich nicht genau beschreiben kann. Am besten ist es wohl mit dem Wort Herkunft zu benennen. Von diesem Ort her kommt etwas auf mich zu: Liebe, Geborgenheit, Herausforderung, Erfahrungen, die mich geprägt haben. Dort, wo ich herkomme, war ich auch angekommen bei mir selbst, dort
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