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Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)

Titel: Wir wollen nicht unsere Eltern wählen: Warum Politik heute anders funktioniert (German Edition)
Autoren: Hannah Beitzer
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absolut dagegen. Helmut Schmidt war für sie ein Verräter, ein U-Boot der Konservativen, ein Reaktionär. An dem Tag, als meine Mutter den Schwangerschaftstest machte, wollte sie mit einer Freundin auf eine Demo nach Bonn fahren, gegen Raketen, für den Frieden. Schwangerschaftstests waren damals noch furchtbar lahme Teile, die mehrere Stunden brauchten, um ein Ergebnis zu liefern. Und so stellte sie den Test im Bad ab, fuhr nach Bonn, kam abends aufgekratzt nach Hause und erfuhr dann auch noch, dass sie ein Kind bekommen würde.
    Hochschwanger verfolgte sie am 1 . Oktober im Fernsehen das Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt. Und obwohl sie ihn eigentlich reaktionär fand, weinte sie zu Hause im Wohnzimmer, als er verlor. Weil es doch traurig und gemein war, wie die FDP ihren Bundeskanzler hängen ließ. Und dann wurde auch noch Helmut Kohl, der Inbegriff all dessen, was meine Eltern schrecklich fanden, Bundeskanzler. Am 11 . Oktober wurde ich geboren.
    Politik war bei uns die ganze Kohl-Ära lang ein großes Thema. Meine Eltern und ihre Freunde definierten sich über ihr politisches Engagement, wie andere Leute es über ihre Religion, ihre Jobs oder ihre Mitgliedschaft im Golfclub taten. Und für uns war die Beschäftigung mit Politik von Anfang an selbstverständlich. In den achtziger Jahren hörten wir Schallplatten, auf denen Frederik Vahle Protestlieder sang, und demonstrierten mit unseren Eltern gegen Atomkraft. In den neunziger Jahren malten wir Plakate für die Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit. Die Botschaft, die in unseren kleinen Köpfen ankam, war klar: Gemeinsam können wir etwas bewirken, etwas verändern. Und: Politik geht uns alle an.
    Wen wundert es also, dass ich den Zusammenhalt, die gemeinsamen Ziele und Ideale, die ich aus den Geschichten meiner Eltern heraushörte, in meiner Generation schmerzlich vermisste? Dass ich mich wie viele andere auch gemeint und verstanden gefühlt habe, als Tocotronic «Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein» sangen? Dass ich, als ich jünger war, erst Punk sein und zwei Jahre später auf einmal mit schrecklich hässlichen Buffalo-Schuhen an den Füßen zur Loveparade fahren wollte?
    Vielleicht ist diese vage Sehnsucht sogar der Grund, warum ein Generationenkonflikt im eigentlichen Sinne jahrelang nicht in Sicht war – ich beneidete meine Eltern um ihre gefühlte Zugehörigkeit zu einer Bewegung.
    Dabei sind meine Eltern nicht einmal 68 er im Wortsinn, genauso wenig wie die meisten anderen Leute, die Kinder in meinem Alter haben. Denn diejenigen, die 1968 tatsächlich Studenten waren, sind im Schnitt zu alt, um unsere Eltern zu sein. Meine Eltern zum Beispiel waren 1968 erst 14 und 15  Jahre alt. Dennoch würde ich sie dazu zählen, weil sie früh mit der politischen Kultur der 68 er in Kontakt kamen, mein Vater sich schon als Schüler lange Haare wachsen ließ und mit seinen Kumpels Protestaktionen in der Schule organisierte. Weil meine Mutter mit Anfang 20 ihren langweiligen Bank-Job schmiss und gemeinsam mit meinem Vater und seinen langhaarigen Freunden aus der Kleinstadt nach München floh. Und weil sie dort im Prinzip genau das taten, was auch schon die «echten» 68 er getan hatten: diskutieren, protestieren, politisieren.
    Die Geschichten, die sie von damals erzählen, ähneln haargenau jenen, die heute in jeder Doku über die 68 er zu bewundern sind. Wie zum Beispiel eine Freundin meiner Eltern ebenfalls ihre Stelle als Arzthelferin aufgab, ihren schnieken Disko-Freund sitzen ließ und meinen Eltern und ihrer Clique folgte, in München an der Abendschule das Abitur nachmachte, während mein Vater sie mit Texten von Marx und Engels versorgte, die sie gewissenhaft durchackerte und die Stellen, die sie nicht verstand, mit Textmarker anstrich.
    Deswegen habe ich mich immer ganz selbstverständlich als 68 er-Kind bezeichnet. Ich fand es überhaupt nicht absonderlich, wenn auf Partys meiner Eltern irgendjemand die Internationale anstimmte. Die deutsche Nationalhymne ist mir hingegen bis heute fremd.
    Doch meine persönlichen Erfahrungen lassen sich nicht auf die Masse meiner Altersgenossen übertragen. Die meisten Eltern meiner Schulfreunde hatten überhaupt nichts mit Protest und Widerstand zu tun – selbst wenn sie um 1968 herum jung waren. Dieser Eindruck lässt sich auch statistisch nachvollziehen, wenn man das Etikett «Studentenbewegung» ernst nimmt und weiß, dass damals weit weniger Leute studiert haben als heute. Man muss kein
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