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Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben

Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben

Titel: Wir sind was wir haben - Die tiefere Bedeutung der Dinge fuer unser Leben
Autoren: Annette Schaefer
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Bedeutung von ›ganz weg‹ zu erfassen«, sagte eine Frau. »So wie meine Wohnung und meine Sachen bin ich nun meistens auch ›ganz weg‹. Ich kann es einfach nicht verstehen.«
    Mit den Besitztümern waren tägliche Routinen, ein bestimmter Lebensstil untergegangen. Dem einen fehlte der Lieblingsstift und die lederne Kladde, in die er immer alles Wichtige notiert hatte; eine andere vermisste das Sofa, auf dem allein ein erholsamer Mittagsschlaf gelang; ein Dritter trauerte um die italienische Espressomaschine, die er in Gang gesetzt hatte, wenn Freunde und Nachbarn auf einen Plausch vorbeikamen. Die verlorenen Sachen standen auch für die eigene Lebensgeschichte. Da waren Fotos, Tagebücher, Briefe und Souvenirs, die an wichtige Ereignisse und frühere Phasen des Lebens erinnerten. Die Opfer hatten das Gefühl, dass ihnen durch den Verlust dieser Dinge auch die eigene Vergangenheit abhanden gekommen war.
    Es war ein tiefes Gefühl der Leere, unter dem die Opfer litten. Der Verlust, das Nichtmehrvorhandensein ihrer Sachen ließ sie einsam und wurzellos werden. Es ging nicht um die Dinge an sich, ihren praktischen Nutzen oder finanziellen Wert. Die verlorenen Dinge waren Symbole für das bisherige Leben, und es war das Fehlen dieser Symbole, das ihnen am meisten zu schaffen machte. Es war so, als hätte das Feuer ein großes schwarzes Loch in ihr Leben gebrannt. Eine Frau beschrieb es so: »Wir wurden zu Waisen ohne Vergangenheit. Als ob wir unter Gedächtnisverlust litten, als ob wir vor dem Feuer nicht existiert hätten. Ich habe neue Kleider gekauft, aber die waren nicht wie die alten. Die neuen hatten dunkle Farben, nicht helle. Und es waren lange Röcke statt kurzer. Ich war zu einem anderen Menschen geworden; das alte Ich war im Feuer verloren gegangen.« Ein Mann erzählte, seit dem Feuer sei er von dem rätselhaften Zusammenhang zwischen Dingen und Lebensgefühl besessen: »Ich führe sogar Selbstgespräche darüber.« Sein Fazit: »Das Feuer hat alles zerstört, was ich hatte; aber es hat auch alles zerstört, was ich war.«
    Die Region, in der der Feuersturm von Oakland wütete, ist eine wohlhabende Gegend, in der Menschen wohnen, die gut verdienen und anspruchsvolle Jobs haben. Der durchschnittliche Wert der niedergebrannten Häuser lag bei knapp 600000 Dollar nach heutigem Wert. Es ist also möglich, dass materieller Besitz im Leben dieser Opfer einen besonders hohen Stellenwert hat. Doch die gravierenden emotionalen Folgen durch den Verlust von Besitz sind keineswegs auf gut situierte Menschen oder überhaupt auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe beschränkt. Egal, ob es sich um reiche oder wirtschaftlich schwächere Menschen handelt, um Männer oder Frauen, um Studenten, Berufstätige oder Rentner – wer seine persönliche Habe überraschend und unfreiwillig verliert, wird oft bis in die Grundfesten seiner Identität erschüttert.
    Für die Tiefe der Trauer spielt der materielle Wert eine untergeordnete Rolle. Es kommt nicht darauf an, wie viel ein Haus, ein Auto, ein Möbelstück oder ein anderer Gegenstand kostet, sondern wie viel Arbeit, Energie, Erinnerung oder Liebe darin steckt. Die Zerstörung einer bescheidenen Hütte kann genauso schmerzlich sein wie der Verlust einer Villa – und sogar noch mehr, wie eine Flutkatastrophe im US-Bundesstaat West Virginia zeigt.
    Es war eine ungewöhnliche und außerordentlich destruktive Welle, die am 26 . Februar 1972 das Buffalo-Creek-Tal, 380 Meilen westlich der US -Hauptstadt Washington, D. C., überschwemmte. Eine Stauanlage für Kohleschlamm und Förderabwässer war geborsten, und 500 Millionen Liter schwarze, zähe Flüssigkeit ergossen sich in das angrenzende Tal. In den 16 dort gelegenen Bergarbeiterdörfern hatte man den Fluten kaum etwas entgegenzusetzen. Die Personenschäden wogen am schwersten: 1000 Verletzte und 125 Todesopfer waren zu beklagen. Aber auch die materiellen Verluste waren verheerend. So verloren 80 Prozent der 5000 Anwohner ihr Zuhause.
    Eine Studie, die der Soziologe Kai Erikson (Sohn des berühmten Psychologen Erik Erikson, dessen Stufenmodell noch ausführlich behandelt wird) im Zusammenhang mit einem Gerichtsverfahren gegen den Betreiber des Bergwerkes erstellte, dokumentiert die Auswirkungen, die das Unglück auf die Psyche der Opfer hatte. Darin beschreibt er auch den tiefen Schock, den die Bergarbeiterfamilien durch den dramatischen Verlust ihrer Häuser erlitten. Eine Reihe von Leuten, berichtet Erikson, verloren nicht
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