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Wir neuen Großvaeter

Wir neuen Großvaeter

Titel: Wir neuen Großvaeter
Autoren: Rainer Holbe
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meinen Enkeln, die Welt vollkommen neu zu sehen, zu begreifen, sie zu verstehen. Dafür bin ich meinen Buben dankbar. Dafür schenke ich ihnen meine Erinnerungen, die ich zu kleinen Geschichten verdichtet habe.
    Großväter – aber auch Großmütter – sind dazu aufgerufen, Geschichten aus ihrem Leben zu erzählen. Das war schon immer so. Was wären die Gebrüder Grimm ohne ihre Großmutter, die ihnen von Rotkäppchen, Rapunzel und den sieben Zwergen berichtete?
    Das Erzählen, das dem anderen selbst etwas erzählen ist Kleinkunst im besten Sinne. Wir jedoch leben in einer Zeit, in der wir uns lieber etwas erzählen lassen: von den Leuten aus dem Fernsehen, von CDs und von Unbekannten aus dem Internet. Und die eigenen Artikulationen, die eigene Wortschöpfung fallen immer schwerer. Am Ende eines Sommers treffen Bekannte und Nachbarn wieder zu Hause ein. Sie kommen von den Inseln der Malediven und aus den Wüsten Namibias, sie haben Gewaltmärsche im Himalaja hinter sich und sind im strömenden Regen nach Machu Picchu aufgebrochen. Die Ferien waren für sie ein exotisches Abenteuer, und ihre Erfahrungen haben nichts mit dem zu tun, was sie im Alltag erwartet. Aber wenn ich sie frage, wie es denn so war in der Fremde, dann höre ich meist die gleichen Antworten: »Schön« oder »interessant« oder das alles umfassende »echt geil!«
    Als ich im Alter von neunzehn Jahren zusammen mit meinem Kumpel Michael K. zu meiner ersten großen Reise aufgebrochen bin und bei Montpellier endlich das Meer sehen durfte, habe ich meinen Freunden nach der Rückkehr ein ganzes Wochenende lang davon erzählt. Jede mir in Frankreich
gereichte Käseplatte beschrieb ich so ausführlich, dass den Zuhörern das Wasser im Munde zusammenlief.
    Um ein guter Erzähler zu sein, bedarf es der Gabe der besonderen Wahrnehmung, meint der Schriftsteller John Irving. Denn oft sind wir mitten in einem spannenden Geschehen und nehmen es überhaupt nicht wahr. Im Erzählen werfen wir einen neugierigen Blick auf das eigene Leben. Der Inhalt eines Buches, eines Films oder eines Ferienerlebnisses erschließt sich erst richtig, wenn wir anderen davon berichten.
    Der Mensch ist ein erzählendes Wesen. Zum Erzählen braucht es Fantasie, die Freude am Gestalten von Sätzen, am Platzieren von Wörtern. Je komplizierter die Welt wird, desto mehr sollten wir sie in Worte fassen.
    Inzwischen fehlen einer ganzen Generation die Worte. Sprachlos hocken sie vor dem Fernsehapparat oder dem Computermonitor und lassen sich die Welt erklären, ohne selbst zu Wort zu kommen. In dieser Sprachlosigkeit sehe ich eine Gefahr für unsere Kultur. Die Bilderflut des Fernsehens drängt die Sprache an den Rand. Sprachlosigkeit ist deshalb gefährlich, weil viele Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihre Probleme zu artikulieren, sich auszusprechen. Nicht selten greifen sie deshalb zu gewalttätigen Lösungen.
    Â 
    Aber was auch immer unsere Persönlichkeit prägen mag: Unser Leben besteht aus einer wachsenden Anzahl von Geschichten, an die wir glauben, und die in ihrer Summe unseren Charakter bestimmen. Erlebtes und Erinnertes in Worte zu fassen, schärft den Blick für die Einflüsse, die uns formen und zu dem machen, der wir sind.

    Eigentlich sprechen wir ja gerne über uns selbst. Sobald jemand uns halbwegs interessiert zuhört, geben wir bereitwillig Auskunft über unser Leben.
    Wir sind das, was andere von uns erzählen. Die eigene Lebensgeschichte ist niemals neutral oder wertfrei, wird sie doch von uns geformt und gestaltet. Wenn wir uns erinnern, erinnern wir uns nicht an tatsächliche Gegebenheiten, sondern jeweils nur an die Erinnerung daran. Als Goethe sein erstes Roman-Manuskript Die Leiden des jungen Werther seinem Verleger brachte, soll er den jungen Mann gefragt haben: »Ist denn das alles die Wahrheit?« Und Johann Wolfgang antwortete: »Es ist mehr als die Wahrheit, es ist Dichtung!«
    Â 
    Jeder von uns hat schon erlebt, dass bei einem wunderbaren Konzert die Gedanken abschweifen und ihre eigenen Wege gehen: Ein langsamer Satz in einer Sinfonie führt uns beharrlich in die Vergangenheit, um beim raschen, dynamischen Finale wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Musik löst Erinnerungen aus, führt zu eigenen Bildern und Empfindungen.
    Vor einigen Jahren bin ich einem Pfarrer begegnet, der im Laufe der Jahre viele Menschen in
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