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Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
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wurde getanzt und um Geld gespielt, aber mit dem großen weißen Hengst würde er zu großes Aufsehen erregen. Alle Petzer und Schnüffler wären geradezu elektrisiert und warteten nur auf die erstbeste Gelegenheit, ihn zu verpfeifen. Außerdem war Five Points so nah! Wozu hatte er das Pferd? Heute zog es ihn hinaus aus der Stadt, er wollte möglichst weit fort.
    Sie rasten die Bowery entlang und erreichten bald den Washington Square, wo der Hengst durch den Torbogen flog wie ein dressiertes Zirkustier durch einen brennenden Reifen. Um diese Zeit waren die Straßen schon von zahlreichen Fußgängern bevölkert. Mit gerunzelten Brauen blickten sie dem tollkühnen Reiter nach, der sich ungeachtet des dichten Verkehrs seinen Weg bahnte. Ein Polizist, der am Madison Square die beiden von seinem erhöhten Piedestal herab die Fifth Avenue heraufkommen sah, begriff augenblicklich, dass es vergeblich sein würde, ihnen Halt zu gebieten, und sorgte von vornherein gleich dafür, dass Pferd und Reiter ungehindert passieren konnten. Der grässliche Anblick eines Gaules, der in vollem Galopp auf ein fahrendes Automobil geprallt war, war ihm noch allzu frisch in Erinnerung. Er wollte so etwas nicht noch einmal erleben.
    Schon kamen Pferd und Reiter gleich einem zum Leben erwachten Standbild pfeilschnell heran. Der Polizist blies in seine Trillerpfeife und fuchtelte mit den behandschuhten Händen. Unerhört! Sie kamen geradewegs auf seine kleine Verkehrsinsel zu, mit mindestens dreißig Meilen in der Stunde! Kindermädchen bekreuzigten sich und legten schützend die Arme um ihre kleinen Schutzbefohlenen. Fuhrleute auf den Kutschböckenreckten ihre Hälse, alte Frauen wandten den Blick ab. Vor Schreck gefror der Polizist auf seinem Türmchen zu Eis.
    Peter spornte sein Pferd zu noch schnellerer Gangart an und ritt schnurgerade auf den Polizisten zu, den rechten Arm wie eine Lanze von sich gestreckt. Als Ross und Reiter wie ein weißer Schemen an dem Mann vorbeihuschten, riss Peter ihm die Dienstmütze mit den Worten vom Kopf: »Ihren Hut, mit Verlaub!« Der erzürnte Beamte machte eine halbe Drehung. Eilig zog er sein Notizbuch aus der Tasche und kritzelte eine Beschreibung des Übeltäters hinein.
    Peter lenkte den Hengst nach links in das Tenderloin-Viertel hinein, doch dort waren die Straßen so hoffnungslos verstopft, dass er bald nicht weiterkam. Ein Tankzug und mehrere andere Fahrzeuge hatten sich ineinander verknäult. Kutscher schrien aufeinander ein, Pferde wieherten ungeduldig. Eine Bande von Lausbuben ergriff die Gelegenheit, um die Erwachsenen mit einem Hagel von Schneebällen und Eisbrocken einzudecken. Peter musste sich mehrmals ducken. Als er dabei zufällig einen Blick nach hinten warf, sah er in der Ferne ein rundes Dutzend blauer Punkte, die sich, von Osten kommend, rasch auf ihn zubewegten. Sie rannten, sie stolperten, sie rutschten – es waren Polizisten! Da es keinen Sattel und keine Steigbügel gab, kletterte Peter auf den Rücken des Pferdes, um nachzuschauen, wie es jenseits des Verkehrsknäuels aussah. Leider musste er feststellen, dass es mindestens eine halbe Stunde dauern würde, bis das Chaos entwirrt wäre. Deshalb wendete er das Pferd und schickte sich an, mitten durch die sich nähernde Phalanx der blauen Uniformen hindurchzupreschen, aber der Mut des Hengstes war von anderer Art. Er wollte davon nichts wissen. Mit schnaubenden Nüstern tänzelte er auf der Stelle, während Peter ihn vergeblich anzuspornen versuchte. Nein, er machte keinen Schritt vorwärts, aber auch keinen zurück, sondern trippelte seitlich auf ein Haus mit einer Leuchtreklame zu, die sogar jetzt, am frühen Morgen, marktschreierisch verkündete: Saul Turkish präsentiert: Caradelba, die spanische Zigeunerin.
    Das kleine Varietétheater war nur halb voll, der Saal in grelles, blaugrünes Licht getaucht. Nur die Bühnenmitte, wo die halb nackte Caradelba in einem Wirbel weißer und cremefarbener Seide tanzte, wurde von einem einzigen weißen Scheinwerferkegel erhellt.
    Peter trabte auf dem weißen Hengst den Mittelgang entlang nach vorne. Dort blieb er stehen und schaute der Tänzerin zu. Insgeheim hoffte er, dass die Polizei ihn aus den Augen verloren hätte, aber schon stürmten die ersten Blauröcke in den Vorraum des Theaters. Da spornte Peter den Hengst erneut an und ritt im Galopp auf den Orchestergraben zu. Die Musiker spielten weiter, aber als urplötzlich ein riesiger Pferdekopf, vergleichbar mit einem Kürbislampion am
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