Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wintermaerchen

Wintermaerchen

Titel: Wintermaerchen
Autoren: Mark Helprin
Vom Netzwerk:
Short Tails abzuhängen war kein Kunststück, denn die Banditen hatten keine Pferde. Außerdem konnte niemand von ihnen reiten, auch Pearly Soames nicht. Aber diese Kerle waren die Herren der Docks. Mit kleinen Booten manövrierten sie erstaunlich geschickt, aber zu Lande half ihnen das nichts. Dort gingen sie zu Fuß oder benutzten die städtischen Busse, U-Bahnen und Vorortzüge – selbstverständlich ohne Fahrschein. Seit drei Jahren waren sie hinter Peter Lake her. Sie jagten ihn ohne Rücksicht auf Wetter und Jahreszeit, sodass er seinen eigenen Worten zufolge immer im »Keller« war, das heißt in einem fortwährenden Abwehrkampf, auf dessen Ende er bisher vergeblich gehofft hatte.
    Bisweilen suchte Peter Schutz bei den Muschelfischern des Marschlandes von Bayonne, aber sein eigentliches Revier war Manhattan. Es dauerte dort allerdings nie lange, bis die Short Tails ihn ausfindig gemacht hatten. Dann begann die Jagd aufs Neue.
    Peter konnte und wollte auf Manhattan nicht verzichten, denn er war ein Dieb. Woanders zu arbeiten wäre in diesem Gewerbe ein niederschmetterndes Eingeständnis der eigenen Mittelmäßigkeit gewesen. Während der vergangenen drei Jahre hatte er mehrmals mit dem Gedanken gespielt, nach Boston zu gehen, aber stets war er zu derselben Schlussfolgerung gelangt: Dort gab es so gut wie keine lohnende Diebesbeute, die Stadt war zudem für Diebe oder Einbrecher allzu klein und übersichtlich, und außerdem musste er, Peter, sich darauf gefasst machen, den Cantarello-Affen in die Quere zu kommen. Die gaben dort in Boston den Ton an, aber sie waren nichts im Vergleich mit den Short Tails, mit denen sich Peter Lake – übrigens aus ganz anderen Gründen – angelegt hatte. Er hatte sogar gehört, dass es in Boston nachts richtig dunkel wurde! Angeblich stieß man dort auch an jeder Straßenecke mit einem Geistlichen zusammen. Deshalb blieb er lieber in New York und gab sich weiterhin der Hoffnung hin, die Short Tails könnten irgendwann der ständigen Jagd überdrüssig werden.
    Da irrte er jedoch. Abgesehen von den Verschnaufpausen im Marschland waren ihm die Kerle immer dicht auf den Fersen gewesen. Mittlerweile hatte er sich fast daran gewöhnt, auf der wackeligen Treppe irgendeines seiner Notquartiere schon in aller Herrgottsfrühe das Poltern von vielen Stiefeln zu vernehmen. Oftmals hatte er von einer leckeren Mahlzeit, einem ihm geneigten Frauenzimmer oder der reichen Beute in einem unbewachten Haus ablassen müssen, weil urplötzlich die Short Tails aufgetaucht waren. Es kam vor, dass sie buchstäblich neben ihm aus dem Boden wuchsen. Wie sie das anstellten, war ihr Geheimnis.
    Doch nun lagen die Dinge anders, denn jetzt hatte Peter ein Pferd. Warum war er nicht früher darauf gekommen? Endlich konnte er für einen beliebig großen Sicherheitsabstand sorgen, wenn Pearly ihm wieder einmal zu dicht auf den Pelz rückte, und im Sommer würde er sogar auf dem Rücken des Pferdes Flüsse und Seen durchschwimmen können. Im Winter, wenn das Wasser zufror, würde alles sogar noch leichter sein. Er könnte nicht nur nach Brooklyn flüchten – wenn auch mit dem Risiko, sich im verwirrenden Labyrinth der unzähligen Straßen zu verirren –, sondern nun lagen auch die Kiefernwälder der weiteren Umgebung, die Watchung-Berge und die endlosen Strände von Montauk in seiner Reichweite. Das waren Orte, die man nicht mit der U-Bahn erreichen konnte. Gewiss würden die an die Stadt gewöhnten Short Tails vor ihnen zurückschrecken, denn mochten sie sich auch aufs Töten und Stehlen verstehen, so fürchteten sie sich doch vor Blitz, Donner, wilden Tieren, tiefen Wäldern und dem Quaken der Baumfrösche in der Nacht.
    Peter Lake spornte das Pferd zu einer schnelleren Gangart an, aber der Hengst brauchte keine Ermunterung. Die Angst saß ihm noch im Nacken, und außerdem liebte er es, dahinzujagen wie ein Pfeil. Schon übergoss die Morgensonne die Dächer der Häuser mit ihrem Feuerschein. Der Hengst hatte sich längst warm gelaufen. Ja, er genoss es, dahinzustürmen wie ein großes weißes Geschoss, den Kopf nach vorn in den Wind gereckt und die Ohren angelegt. Er machte so riesige Sätze, dass Peter unwillkürlich an ein Känguruh denken musste. Bisweilen war ihm, als würden die Hufe des Hengstes den Boden überhaupt nicht mehr berühren.
    Es hat wohl keinen Sinn, nach Five Points zu reiten, sagte sich Peter. Gewiss, er hatte dort Freunde und konnte in tausend Kellerkaschemmen Unterschlupf finden. Da
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher