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Winterkrieger

Winterkrieger

Titel: Winterkrieger
Autoren: David Gemmell
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begann zu verblassen. Sie versuchte, das Bild festzuhalten, aber es sank in sich zusammen, und eine neue Szene baute sich auf. Ein Lagerfeuer an einem dunklen, zugefrorenen See, der zwischen hohen Bäumen lag. Ein Mann – ein großer Mann – der mit dem Rücken zum See dasaß. Hinter ihm durchbrach eine dunkle, klauenbewehrte Hand das Eis, dann stieß eine dämonische Gestalt hindurch. Sie war ungeheuer groß, geflügelt und schimmerte im Mondlicht. Die großen Schwingen breiteten sich aus, und der Dämon schwebte näher an den Mann am Lagerfeuer. Er streckte einen Arm aus.
    Ulmenetha wollte aufschreien um ihn zu warnen, doch sie konnte nicht. Die Klauen fuhren in den Rücken des Sitzenden. Er schnellte hoch und schrie einmal, dann sank er vornüber.
    Während Ulmenetha noch zusah, begann der Dämon zu verschwimmen, sein Körper wurde zu schwarzem Rauch, der in die blutige Wunde im Rücken des Toten wirbelte. Dann war der Dämon fort, und der Leichnam des Mannes erhob sich. Ulmenetha konnte sein Gesicht nicht sehen, da er die Kapuze tief hinuntergezogen hatte. Er wandte sich zum See und hob die Arme. Durch die Oberfläche aus Eis reckten sich tausend Klauenhände, um ihn zu grüßen.
    Wieder verblasste die Vision, und jetzt sah sie einen Altar. Von Ketten gehalten, lag darauf ein nackter Mann mit goldenem Bart. Es war Axianas Vater, der ermordete Kaiser. Eine Stimme sprach, eine sanfte Stimme, die sie meinte, wieder erkennen zu müssen, doch sie war irgendwie undeutlich, als ob sie einem fernen Echo lauschte. »Jetzt«, sagte die Stimme, »ist der Tag der Auferstehung nicht mehr weit. Du bist der erste der Drei.« Der angekettete Kaiser wollte etwas sagen, doch ein Krummdolch schlitzte ihm die Brust auf. Sein Körper krümmte sich.
    Ulmenetha schrie auf – und die Vision verschwand. Jetzt ruhte ihr Blick nur noch auf der kahlen, mondbeschienenen Wand des königlichen Schlafgemachs.
    Die Visionen ergaben keinen Sinn. Der Kaiser war nicht geopfert worden. Nachdem er die letzte Schlacht verloren hatte, war er mit seinen Adjutanten geflohen. Er war, wie es hieß, von Offizieren seiner eigenen Leibwache erschlagen worden, Männern, die von seiner Feigheit abgestoßen waren. Warum sollte sie ihn dann also auf diese Weise geopfert sehen? War die Vision nur symbolisch?
    Das Ereignis am See war ebenso unsinnig. Dämonen lebten nicht unter dem Eis.
    Und die Königin wäre niemals mit nur vier Kriegern im Wald. Wo waren der König und seine Armee? Wo war die königliche Leibwache?
    »Vergiß die Visionen«, befahl sie sich. »Auf irgendeine Weise sind sie fehlerhaft. Vielleicht war deine Vorbereitung nicht gründlich genug.«
    Axiana stöhnte im Schlaf, und die Priesterin stand auf und ging zu ihrem Bett. »Ganz ruhig, mein Kleines«, flüsterte sie beruhigend. »Es ist alles gut.«
    Aber es war nicht alles gut, wie Ulmenetha nur zu gut wusste. Ihre lorassium -Visionen waren gewiss geheimnisvoll und vielleicht wirklich symbolisch. Aber sie waren niemals falsch.
    Und wer waren die vier Männer? Sie rief sich ihre Gesichter ins Gedächtnis zurück. Einer war ein schwarzer Mann mit hellen blauen Augen, der zweite ein großer, kahler Mann mit einem weißen, herabhängenden Schnurrbart. Der dritte war jung und sah gut aus. Der vierte hielt einen Bogen in der Hand. Sie erinnerte sich an die weiße Krähe und schauderte.
    Das war ein Zeichen, das sie ohne jede Mühe lesen konnte.
    Die weiße Krähe war der Tod.
     
    Kebra der Bogenschütze ließ eine kleine Goldmünze in die Hand des aufgebrachten Wirtes fallen. Sofort verebbte der Zorn des dicken Mannes. Es gab nichts auf der Welt, was ihm ein solches Gefühl der Wärme verschaffte wie Gold in seiner Hand. Die lodernde Wut angesichts der zerbrochenen Möbel und des entgangenen Geschäfts verblasste zu leichter Gereiztheit. Der Wirt sah zu dem Bogenschützen auf, der sich den Schaden betrachtete. Ilbren studierte schon lange die menschliche Natur und konnte einen Menschen rasch und genau einschätzen. Doch die Freundschaft zwischen Kebra und Bison blieb ihm rätselhaft. Der Bogenschütze war ein anspruchsvoller Mann, seine Kleidung war immer sauber, ebenso wie Haut und Hände. Er war kultiviert und sprach leise, und er hatte die seltene Gabe, sich Raum zu verschaffen, als ob er Menschenmengen und die Nähe anderer verabscheute. Bison dagegen war ein unkultivierter Tölpel, und Ilbren fand ihn abstoßend. Genau die Sorte Mann, die immer zwei Krüge Bier mehr trank als sie vertrug
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