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Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)

Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)

Titel: Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Autoren: Jennifer McMahon
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dicken Handschuh ab – das Blut war frisch, noch nicht gefroren. Als er den Stall untersuchte, entdeckte er das kleine Loch, das der Fuchs ins Holz gebissen hatte, um hineinzugelangen. Er stieß zwischen zusammengebissenen Zähnen die Luft aus, entriegelte die Tür und spähte ins Innere des Hühnerhauses. Zwei weitere Tiere waren tot. Keine Eier. Die verbliebenen acht Hennen drängten sich verängstigt in der hintersten Ecke zusammen.
    Er eilte zurück zum Haus, um das Gewehr zu holen.

Gertie
12. Januar 1908
    »Wenn Schnee schmilzt und zu Wasser wird, erinnert er sich dann noch daran, früher einmal Schnee gewesen zu sein?«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob Schnee überhaupt ein Gedächtnis hat«, antwortet Mama.
    Es hat die ganze Nacht über heftig geschneit, und als ich heute Morgen zum Fenster hinausgeschaut habe, war alles unter einer dicken, weichen Decke verborgen, so weiß und rein, dass man nichts mehr sehen konnte – weder Fußspuren noch Wege noch irgendwelche Hinweise darauf, dass es hier Menschen gibt. Als wäre die Welt wiedergeboren worden, ganz frisch und neu. Heute ist schulfrei, und obwohl ich Miss Delilah sehr gern habe, mag ich es noch lieber, mit Mama daheim zu bleiben.
    Mama und ich liegen ganz eng aneinandergekuschelt, zusammengerollt wie zwei Kommas. Ich weiß alles über Kommas und Punkte und Fragezeichen. Miss Delilah hat es mir beigebracht. Einige Bücher kann ich schon recht gut lesen, aber andere, die Bibel zum Beispiel, verstehe ich nicht. Miss Delilah hat mir auch von der Seele erzählt und erklärt, dass jeder Mensch eine habe.
    »Gott haucht sie uns mit seinem Odem ein«, sagte sie.
    Ich fragte sie, ob Tiere auch eine Seele hätten, und sie sagte nein, aber ich glaube, sie irrt sich. Ich glaube, dass alles eine Seele und ein Gedächtnis hat, auch Tiger und Rosen, sogar der Schnee. Und natürlich der alte Shep, der den ganzen Tag vor dem Feuer liegt und schläft. Er hat die Augen geschlossen und scharrt mit den Pfoten, denn in seinen Träumen ist er immer noch ein junger Hund. Wie kann man träumen, wenn man keine Seele hat?
    Die Bettdecke bildet ein Zelt über unseren Köpfen, und es ist dunkel, als befänden wir uns tief unter der Erde. Wie Tiere in ihrem Bau, warm und geborgen. Manchmal spielen wir Verstecken, und ich liebe es, mich unter Mamas Bettdecke zu verstecken. Ich bin klein und kann mich selbst in die winzigsten Ecken zwängen. Manchmal dauert es sehr, sehr lange, bis Mama mich gefunden hat. Mein Lieblingsversteck ist Mamas und Papas Kleiderschrank. Ich mag das Gefühl, wie ihre Kleider mein Gesicht und meinen Körper streicheln, als ginge ich durch einen Wald voller weicher Bäume, die nach Zuhause riechen: nach Seife und Holzfeuer und der Creme mit Rosenduft, die Mama manchmal für ihre Hände nimmt. Ganz hinten im Schrank gibt es ein loses Brett, das man herausnehmen kann, und wenn ich weiterkrieche, komme ich im Wäscheschrank im Flur wieder heraus, unter dem Regal mit den Laken, Handtüchern und Quilts. Manchmal schlüpfe ich auch heimlich auf der Flurseite hinein, schleiche mich von dort aus in Mamas und Papas Schrank und sehe ihnen beim Schlafen zu. Dabei wird mir immer ganz seltsam und wunderbar zumute, und ich komme mir eher wie ein Schatten als wie ein echtes Mädchen vor, weil nur ich allein wach bin, niemand sonst. Ich und der Mond lächeln dann auf Mama und Papa herab, während sie träumen.
    Mama nimmt meine Hand und schreibt mit dem Zeigefinger etwas hinein.
    A-U-F-S-T-E-H-E-N?
    »Nein, Mama«, sage ich und schließe meine Finger um ihre. »Nur noch ein bisschen.«
    Mit einem Seufzer zieht Mama mich an sich. Ihr Nachthemd ist aus zerschlissenem Flanell. Ich streiche mit den Fingern über die weichen Falten.
    »Was hast du geträumt, mein kleiner Liebling?«, fragt sie. Ihre Stimme ist weich und glatt wie gutes Leinen.
    Ich lächele. Nehme ihre Hand und schreibe B-L-A-U-E-R H-U-N-D hinein.
    »Schon wieder? Wie schön! Hat er dich auf seinem Rücken reiten lassen?«
    Ich nicke. Mein Hinterkopf stößt dabei gegen ihr Kinn.
    »Wo ist er diesmal mit dir hingelaufen?« Sie küsst mich in den Nacken, und ihr Atem kitzelt die kleinen Härchen dort. Ich habe einmal zu Miss Delilah gesagt, dass wir alle zum Teil auch Tiere sein müssen, weil an verschiedenen Stellen unseres Körpers Fell wächst. Sie hat gelacht und gemeint, das sei ein törichter Gedanke. Manchmal, wenn Miss Delilah über mich lacht, komme ich mir so klein vor, wie ein Kind, das gerade erst
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