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Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)

Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)

Titel: Winter People - Wer die Toten weckt: Wer die Toten weckt (German Edition)
Autoren: Jennifer McMahon
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hatte sie in gestochener Schönschrift auf die Karte geschrieben. Ich hatte die Blume in meine Bibel gelegt, und dort war sie jahrelang geblieben, bis sie irgendwann zerbröselte oder herausfiel, ich weiß es nicht mehr.
    Und nun, wenige Wochen später, entdeckte mich die Schlafende Hester dort oben im Wald, während ich mich hinter meinen Stein duckte. Ich werde nie den Blick ihrer Augen vergessen – es war der verängstigte, halb erkennende Blick eines Menschen, der aus einem schrecklichen Traum erwacht ist.
    Ich hatte von den Schlafenden gehört; es gab sogar ein Spiel, das wir manchmal auf dem Schulhof spielten. Dabei musste sich ein Kind als Tote in einen Kreis aus Veilchen und Vergissmeinnicht legen, die die anderen Kinder gepflückt hatten. Dann beugte sich jemand zu dem toten Mädchen herunter und flüsterte ihm Zauberworte ins Ohr, woraufhin es aufsprang und die anderen Kinder zu fangen versuchte. Diejenige, die zuerst gefangen wurde, musste als Nächste sterben.
    Ich glaube, ich habe dieses Spiel sogar einmal mit Hester Jameson gespielt.
    Ich hatte das Gerede gehört, die Gerüchte über Schlafende, die angeblich von ihren trauernden Ehemännern oder -frauen aus dem Land der Toten zurückgerufen worden waren. Allerdings war ich überzeugt davon, dass sie allein in den Geschichten existierten, die alte Frauen einander beim Wäschefalten oder Sockenstopfen erzählten – als Zeitvertreib und um dafür zu sorgen, dass neugierige Kinder vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause eilten.
    Bis zu diesem Zeitpunkt war ich mir ganz sicher gewesen, dass Gott in seiner unendlichen Weisheit eine solche Abscheulichkeit niemals zugelassen hätte.
    Hester stand keine zehn Fuß von mir entfernt. Ihr blaues Kleid war fleckig und zerrissen, ihr helles Haar struppig wie Maisgrannen. Sie verströmte den dumpfen Geruch nasser Erde, doch da war noch etwas anderes, ein beißender, öliger Brandgeruch – etwa so, wie wenn man eine Talgkerze ausbläst.
    Unsere Blicke trafen sich, und ich wollte etwas sagen, ihren Namen rufen, doch alles, was mir über die Lippen kam, war ein ersticktes Hss .
    Hester floh in den Wald zurück wie ein aufgescheuchter Hase. Ich vermochte mich nicht zu rühren und drückte mich kläglich an meinen Stein wie eine Flechte.
    Kurz darauf kam auf dem Pfad, der zur Teufelshand hinaufführte, eine zweite Gestalt gelaufen, die Hesters Namen rief.
    Es war Cora Jameson, ihre Mutter.
    Als sie mich sah, blieb sie stehen. Ihre Wangen glühten, ihre Miene war verzweifelt. Sie hatte Kratzer im Gesicht und an den Armen. Blätter und Zweige hatten sich in ihrem Haar verfangen.
    »Sag niemandem etwas davon«, keuchte sie atemlos.
    »Aber warum?«, fragte ich und kam hinter meinem Stein hervor.
    Sie blickte mir geradewegs ins Gesicht, ja fast durch mich hindurch, als wäre ich eine Fensterscheibe voller Schlieren. »Eines Tages, Sara«, sagte sie, »wirst du vielleicht einen Menschen so sehr lieben, dass du es verstehst.«
    Dann hastete sie weiter, in den Wald hinein, der Schlafenden hinterher.
    Später erzählte ich Auntie davon.
    »Ist das wirklich möglich?«, wollte ich von ihr wissen. »Jemanden wieder lebendig zu machen?«
    Wir waren unten am Fluss und pflückten Farnspitzen. Wie jedes Frühjahr füllten wir Aunties Korb mit den noch eingerollten Trieben, um aus ihnen zu Hause mit verschiedenen wilden Gemüsen und Kräutern, die Auntie unterwegs sammelte, eine dicke Suppe zu kochen. Außerdem wollten wir nach den Fallen sehen – zwei Tage zuvor hatte Auntie einen Biber gefangen, und nun hoffte sie auf einen zweiten. Biberpelze waren kostbar, und man erzielte gute Preise für sie. Einst seien die Biber fast so zahlreich gewesen wie Eichhörnchen, hatte Auntie mir erklärt, doch Fallensteller hätten die Tiere beinahe ausgerottet.
    Buckshot begleitete uns, die Nase am Boden, die Ohren auf jeden Laut horchend. Ich wusste nicht, ob er ganz oder nur zur Hälfte Wolf war. Auntie hatte ihn als Welpen gefunden. Jemand hatte ihn angeschossen, und er war in eine ihrer Fallgruben gestürzt. Sie hatte ihn mit zu sich nach Hause genommen, den groben Schrot aus seinem Fleisch entfernt, seine Wunden versorgt und ihn gesund gepflegt. Seitdem wich er ihr nicht von der Seite.
    »Es war sein Glück, dass du ihn gefunden hast«, hatte ich gesagt, nachdem ich die Geschichte zum ersten Mal gehört hatte.
    »Mit Glück hatte es nichts zu tun«, hatte Auntie mir widersprochen. »Er und ich waren füreinander bestimmt.«
    Bei keinem anderen
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