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Winter in Maine

Winter in Maine

Titel: Winter in Maine
Autoren: Gerard Donovan
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achtundfünfzigtausend Soldaten. Julius, was meinst du, wie viele Menschen das noch wissen?
    Nicht viele, vielleicht auch gar keiner, antwortete ich.
    Und das ist nicht mal achtzig Jahre her, sagte er. Deshalb war es deinem Großvater egal.
    Er nahm eine dunkelblaue Samtschatulle vom Regal und öffnete sie, und da lagen die Orden, die schwerer waren, als ich gedacht hatte.
    Trotzdem hast du sie behalten, sagte ich.
    Er nickte mit flammenfunkelnder Brille, schluckte, schloss die Schatulle und las dann weiter, und ich ließ ihn eine Weile in Ruhe, denn er sprach nicht oft über seine Gefühle.
    Er selbst hatte 1944 während der letzten verzweifelten Mo nate des Zweiten Weltkriegs in Holland gekämpft, wo sich die Soldaten im Häuserkampf aufrieben und in den nassen Straßen starben. Bei Kriegsende warf er seinen Karabiner weg und kam nach Hause. Er hatte mit dem Töten abgeschlossen und ging danach auch nicht mehr zur Jagd.
    Ich bewahrte die Samtschatulle mit den Orden meines Großvaters auf. Eine Million Soldaten wirft man nicht einfach weg.
    8
    Ich brachte das Feuer mit frischen Holzscheiten wieder in Gang, setzte mich mit einem Becher Tee davor und starr te in die orangefarbenen Flammen, die hinter dem Ofenglas prasselten. In diesen Augenblicken, kurz bevor ich zu lesen begann, überfiel mich manchmal die Stille. Jetzt, wo das raue Wetter begonnen hatte, würde bald Schnee fallen, der den Winter über liegen blieb. Schon seit ein paar Tagen hatte ich gehört, wie die letzten Kanadagänse über den Wald flogen und mit lautem Geschnatter auf den Feldern landeten, um sich auf dem Weg zu den Brutplätzen im Süden auszuruhen. In der Nacht hockten sie zu Hunderten still in der Ebene, doch am Morgen erhoben sie sich mit tausend Flügeln in die Lüfte, kreisten eine Weile am Himmel und formierten sich unter der Sonne zu einem Pfeil, der nach Süden wies. Diese Jahreszeit machte auch mich ruhelos, vielleicht weil ich sah, dass sich die meisten Geschöpfe bei einem Wetterumschwung entweder häuslich einrichteten oder sich aus dem Staub machten.
    Ich lebte schon seit einundfünfzig Jahren in dieser Hütte. In den Sommermonaten arbeitete ich als Landschaftsgärtner für reiche Leute, zumeist Auswärtige mit Ferienhäusern, die sich im Allgemeinen nicht gern mit Einheimischen unterhielten, und das gefiel mir, weil sie sich nicht in meine Angelegen heiten mischten. Außerdem arbeitete ich manchmal in einer Autowerkstatt, wo ich für den Inhaber schwierige Reparaturen ausführte, der Mann hat te immer einen öligen schwar zen Lappen in der Hand und war froh, mich im Frühling zu sehen, sagte, ich könne bei jedem Auto auf der Welt wahre Wunder vollbringen. Mit den beiden Jobs verdiente ich so viel Geld, dass es reichte, um den Winter zu überstehen, und das war auch gut so, denn mein Vater sagte immer: Was du nicht brauchst, steht dir nicht zu. Aber das war alles, was ich tat: den Winter überstehen. Manchmal fragte ich mich, ob es für mich noch etwas anderes auf der Welt gab, ob ich hätte zur Univer sität gehen sollen und was dann aus mir geworden wäre. Ich hatte mich weder richtig niedergelassen, noch war ich weggegangen, und ich wusste, dass ich mehr für meinen Kopf hätte tun sollen. Wenn ich mein bisheriges Leben in einem einzigen Satz zusammenfassen müsste, würde ich sagen, dass ich seit einundfünfzig Jahren in einer Hütte lebte.
    9
    Am Mittwoch schlief ich lange, und als ich aufwachte, war ich wie immer bis zu den Augen fest in die Decke gemummt. Ich hatte mich in Socken und langem Mantel ins Bett gelegt und war eingeschlafen, die Fenster offen, damit frische Luft hereinkam. Als ich den Mut aufbrachte, in der Kälte aufzuste hen, um Teewasser aufzusetzen, stieg mein Atem in kleinen Wölkchen auf.
    Nach ein paar Scheiben Toast mit Butter zog ich Pullover, Mantel und ein gutes Paar Stiefel an und begab mich zur Scheune. Auf dem Weg dorthin sah ich, dass die orangegelbe Kapuzinerkresse im Beet verwelkt war: Die drei Nächte mit leichtem Frost hatten ihr den Garaus gemacht. Ich konnte die Plastikabdeckung entfernen, aber all das hatte Zeit bis später. Es war ein sehr schöner Morgen, die Vögel flogen von Zweig zu Zweig und stürzten sich auf die Samenkörner, die ich für sie ausstreute, und das heiße Wasser, das ich in den Betonbrun nen goss.
    Ich schob das Scheunentor auf, ging zu der Werkbank am anderen Ende und wickelte das Gewehr aus der Lederhülle. Ich kontrollierte den Lauf, reinigte die Patronenkammer mit
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