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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen
Autoren: Iris Strohschein
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der Fotograf abgedrückt hatte.
    Erneut wunderte sie sich über das ungewöhnliche Sujet; sie wollte sich eingehender mit der Ikone auf dem Foto beschäftigen und stand auf, um aus den Bücherregalen im Wohnzimmer ein paar großformatige Bildbände zu holen.
    Zurück auf der Terrasse, beugte sie sich mit der Lupe über die Abbildung. Sie begann, die äußeren Ränder der Ikone nach einer Beischrift abzusuchen. Konnte sie keine finden, war sie entweder durch Kerzenruß und die Berührungen der Gläubigen mit Hand und Mund verschwunden, oder sie konnte mit Sicherheit sagen, dass die Ikone aus kunsthistorischer Sicht eine Fälschung war. Auf einem Block, der neben ihr lag, machte sie sich Notizen.
    Das Abendlicht brach durch den großblättrigen Efeu, der über ihrem Sitzplatz zu einer dichten Laube wuchs.
    Nach einer Weile ließ sie die Lupe entnervt sinken. Die Qualität des Fotos war zu schlecht, um brauchbare Informationen bezüglich der Beischrift zu finden. Rosa lehnte sich zurück und fischte etwas Gemüse vom Teller. Während sie aß, musste sie an ihren Lieblingsprofessor an der Universität denken. Bei ihm hatte sie gelernt, dass die westliche Art und Weise, Ikonen zu studieren, dem Betrachter oft einen Streich spielt: Er glaubt, eine naive Malerei vor sich zu haben. Doch eine Ikone stellt nicht dar, wie der Maler Gott oder eine göttliche Wirklichkeit sieht, sondern wie der Betrachter   von Gott   angesehen wird. Deshalb ist die Perspektive in der Ikonenmalerei umgekehrt. Die Linien ziehen sich nicht vom Auge des Betrachters zu einem Fluchtpunkt in der Mitte des Bildes, sondern sie kommen wie Strahlen auf den Betrachter zu.
    Rosa war sich sicher, dass sie aufgrund des schlechten Fotos nicht mehr als eine vage Bestimmung der Ikone abgeben konnte, und nahm sich vor, das Liebhart morgen in aller Deutlichkeit zu sagen. Doch musste sie sich eingestehen, dass sie die von der rein kunstwissenschaftlichen Analyse losgelöste, spirituelle Bedeutung einer Ikone nicht ganz erfassen konnte. Sie wollte daher vor dem Treffen mit Liebhart und Schurrauer einen Fachmann aufsuchen und dachte dabei an Radoslav Beljajew. Er war Priester in der russisch-orthodoxen Kirche zum Heiligen Nikolaus im 3. Bezirk in Wien. Ab und zu hielt er Seminare am Institut für Byzantinistik und Neogräzistik der Universität, wo Rosa ihn nach einem Vortrag kennengelernt hatte.
    Sie ging ins Haus und fuhr ihr Notebook hoch, um sich ins Internet einzuloggen. Ein paar Sekunden später hatte sie die Telefonnummer der Kathedrale zum Heiligen Nikolaus. Ein Blick auf die Uhr ließ ihre Hoffnung sinken, dort noch jemanden zu erreichen. Es war bereits acht vorbei; aber zu ihrer Überraschung nahm Radoslav Beljajew persönlich nach dem zweiten Klingeln ab. Über Rosas Verblüffung, ihn noch an seinem Arbeitsplatz zu erreichen, lachte er leise und meinte spitzbübisch, dass sie wohl mit dem Gottesdienstplan der russisch-orthodoxen Kirche nicht vertraut sei. Aber das könne man natürlich auch nicht erwarten. Heute habe um sechs Uhr eine Nachtwache mit Litia – einem Totengedächtnis – stattgefunden, so wie das zwei- bis dreimal im Monat der Fall sei. Er konnte sich sogar an Rosa erinnern, was sie verwunderte, und war sehr hilfsbereit. Sie vereinbarten einen Termin am nächsten Tag in der Kathedrale.
    Nach dem Gespräch ging sie wieder auf die Terrasse und nahm einen großen Schluck Wein. Die Sonne war inzwischen hinter den Hügeln untergegangen, und vom Tal stieg eine angenehme Kühle auf. Rosa sammelte ihre Unterlagen ein und übersiedelte ins Haus. Sie brachte das Geschirr in die Küche und stellte einen Kaffee in der kleinen Espressokanne zu. Besorgt registrierte sie, dass auch ihre Kaffeereserven zur Neige gingen. Im starken Licht über dem großen Tisch im Wohnzimmer arbeitete sie konzentriert weiter.
    Als sie sich aufrichtete und streckte, schlug die Turmuhr im Ort gerade zwei Uhr früh. Rosa lehnte sich im Sessel zurück. Sie hatte alles an Informationen aus der vergrößerten Kopie der Ikone herausgeholt. Es schien ihr trotz allem zu wenig, um zur Lösung des Mordfalls beitragen zu können. Gern hätte sie das Kunstwerk im Labor untersucht. Sie hoffte sehr, dass das morgige Gespräch mit Radoslav Beljajew ihr weiterhelfen würde.
    »Vielleicht bringt ja auch die Wohnung von Friedrich Kobald etwas Licht in die Sache«, sagte sie zu ihrer Katze, die in unmittelbarer Nähe auf einem Stapel Bücher am Tisch lag und schlief.
    * * *
    Die Menschen
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