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Wiener Schweigen

Wiener Schweigen

Titel: Wiener Schweigen
Autoren: Iris Strohschein
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hier renoviert, allerdings ohne sichtbaren Erfolg.
    Sie ging langsam an der Kirche vorbei und kam zum gleichnamigen Platz. Als sie die Skulptur des Donaumädchens von Wolfgang Hutter passierte, verzog Rosa ihr Gesicht. Sie hatte die Wiener Schule des Phantastischen Realismus nie gemocht. Für sie gehörten deren Kunstwerke in eine Schublade mit Mozartkugeln und Lipizzanerkitsch. Sie hoffte, dass wenigstens der Künstler mit dem täglichen Anblick seines Werkes leben konnte. Soviel sie wusste, wohnte er in einem der Häuser auf dem Platz und kam so notgedrungen jeden Tag an seiner Statue vorbei.
    Rosa stieg die Eisernenhandgasse hinauf, weiter oben wurde die Luft immer klarer. Sie beschloss, sich einfach zwischen die Weinreben auf den Boden zu setzen und die Abbildung der Ikone genauer anzusehen.
    Sie hielt das Bild lange in den Händen. Die alte Frau auf dem Foto trug ein schwarzes Wollkleid, das über der Brust in Falten gelegt war. Die Wand, an der die Ikone hing, hatte Flecken, und an manchen Stellen bröckelte der Putz ab. Rosa ließ das Foto sinken und ihren Blick hinunter zur Donau gleiten. Das Sujet kam ihr ungewöhnlich vor. Die meisten Familienaufnahmen jener Zeit, Anfang des 20. Jahrhunderts, waren im Studio aufgenommen worden, sie konnte sich nicht erinnern, jemals eine Aufnahme in so einer ärmlichen Umgebung gesehen zu haben. Für gewöhnlich trugen die Männer weiße gestärkte Krägen, und die Anzüge waren eng geschnitten. Frauen waren noch geschnürt und hatten Kinder mit ernsten, erwachsen anmutenden Gesichtern auf ihrem Schoß sitzen. Die Posen der Abgebildeten waren steif und zeigten die deutliche Vormachtstellung des stehenden Familienvaters gegenüber seiner sitzenden Frau und den Kindern.
    Rosa kniff die Augen zusammen und versuchte, die Ikone näher zu betrachten; nach ein paar Minuten ließ sie die Fotografie jedoch verärgert sinken.
    »Ohne Lupe seh ich da gar nichts«, brummte sie und griff nach den kopierten Blättern aus Zielińskis Notizbuch.
    Es waren zwanzig Seiten, auf die der junge Mann, neben ein paar Eintragungen in Polnisch, die Ikone gezeichnet hatte. Rosa brütete noch eine Weile über den Blättern, konnte aber in den Zeichnungen nichts entdecken, das ihr hätte weiterhelfen können.
    Als die Turmuhr im Dorf fünf schlug, beschloss sie nachzusehen, ob der Weg zu ihrem Auto schon passierbar war.

3
    Zofia Zieliñska erhob sich langsam in ihrem Bett. Sie blieb auf dem harten Rahmen sitzen und sah sich in dem Zimmer um, in dem sie seit fast siebzig Jahren jeden Tag aufwachte. Sechzig Jahre lang hatte der erste Blick des Tages ihrem neben ihr liegenden Mann gegolten. Seit fast zehn Jahren war seine Bettseite verwaist. Józef Zieliński war eines Abends friedlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.
    Sie hatten es nicht immer leicht gehabt, doch für Józef hatte seine Familie stets an erster Stelle gestanden. Alle gemeinsam hatten sie vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang auf ihren Feldern hinter dem Haus gearbeitet. Am Abend hatte Zofia das Essen für die große Familie zubereitet, während Józef die Tiere im Stall versorgte. Sie erinnerte sich, dass sie manchmal so müde gewesen war, dass sie beim Abendbrot am Tisch eingeschlafen war. Seine Eltern hatten damals noch bei ihnen am Hof gewohnt und nach ihren drei Kindern gesehen, solange diese noch zu klein gewesen waren, um mitzuarbeiten.
    Dann war Józef gestorben, und Zofia vermisste ihn seitdem jeden Tag.
    Oft lag sie in der Nacht wach und dachte an ihn; dann setzte sie sich auf und stellte laut in den leeren Raum die Frage: »Wo bist du jetzt?«
    Schwerfällig erhob sie sich und stieg die schmale Holztreppe hinab ins Erdgeschoss. Agnieszka, die Frau ihres Enkels, hatte ihr Kaffee gekocht und ihn, bevor sie arbeiten gegangen war, in einer Thermoskanne auf den Küchentisch gestellt. Auf einem dunkelblauen Teller, der mit einem Tuch bedeckt war, fand sie zwei dicke Scheiben Brot. Zofia lächelte, Agnieszka machte sich immer Sorgen, dass sie zu wenig aß. Sie wusste, dass sie auch heute Morgen nur ein wenig Kaffee trinken würde.
    Zofia rieb sich die Hände, die ihr nach dem Aufwachen immer wehtaten und aussahen wie die knorrigen Äste eines Baumes. Dann goss sie sich ein wenig Kaffee in eine mit verblassten Blütengirlanden verzierte Tasse, deren Ränder schon etwas abgeschlagen waren. Bevor sie sich setzte, starrte sie ein paar Minuten an die leere Stelle an der Wand. Alles, was sie besessen hatten, war dort gehangen.
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