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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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Bücher gefragt. Diese Beherrschung aber ist eine Beherrschung der Beziehungen und nicht eines bestimmten isolierten Elements und verträgt sich wunderbar mit dem Unwissen über einen bestimmten Teil des Ganzen.
    Somit hört ein Buch, sobald es in unser Wahrnehmungsfeld tritt, auf, unbekannt zu sein, und nichts über es zu wissen bedeutet absolut kein Hindernis, von ihm zu träumen oder zu reden. Noch bevor ein gebildeter, neugieriger Mensch ein Buch aufgeschlagen hat, kann schon sein Titel oder ein kurzer Blick auf den Umschlag eine Reihe von Bildern und Eindrücken bei ihm hervorrufen, die nur darauf warten, in eine erste Meinung verwandelt zu werden, die noch befördert wird durch die Vorstellung, welche die Allgemeinbildung über das Ganze der Bücher bietet. So kann eine noch so flüchtige Begegnung mit einem von ihnen, selbst wenn er es nie aufschlagen wird, für den Nichtleser der Anfang einer authentischen persönlichen Annäherung sein – und gibt es nicht unter Umständen unbekannte Bücher, die diesen Status bereits bei der ersten Begegnung verlieren?
    ∗
    Das Besondere am Nichtlesen von Musils Bibliothekar besteht im Grunde darin, dass seine Haltung nicht passiv, sondern aktiv ist. Zahlreiche gebildete Menschen sind Nichtleser, und umgekehrt sind zahlreiche Nichtleser gebildeteMenschen, da das Nichtlesen nicht einfach die Abwesenheit des Lesens bedeutet. Es stellt eine aktive Tätigkeit dar, die darin besteht, sich in Bezug auf die Unermesslichkeit der Bücher zu organisieren, um sich nicht von ihnen überwältigen zu lassen. In diesem Sinne verdient das Nichtlesen verteidigt und gar unterrichtet zu werden.
    Nun gleicht nichts, zumindest für ein ungeübtes Auge, dem Ausbleiben des Lesens mehr als das Nichtlesen, und niemand scheint jemandem, der nicht liest, näher als jemand, der nicht liest. Beobachtet man aber das Verhalten der beiden Personen einem Buch gegenüber, so gibt es über die Unterschiedlichkeit der jeweiligen Haltungen und Motive, die ihnen zugrunde liegen, keine Zweifel.
    Im ersten Fall interessiert sich die nicht lesende Person nicht für das Buch, wobei hier »Buch« gleichzeitig als Inhalt und als Stellung zu verstehen ist. Die Beziehungen, die es zu den andern unterhält, sind ihm genauso gleichgültig wie sein Gegenstand, und die Angst, er könnte, wenn er sich für ein einziges interessiert, den Eindruck erwecken, die andern gering zu schätzen, ist ihm unbekannt.
    Im zweiten Fall verzichtet die nicht lesende Person nur deshalb auf die Lektüre, um wie Musils Bibliothekar das Wesentliche des Buches zu erfassen, nämlich seine Stellung in Bezug zu den anderen. Damit bekundet sie nicht etwa mangelndes Interesse am Buch, ganz im Gegenteil. Gerade das Wissen um die enge Verknüpfung zwischen Inhalt und Stellung veranlasst sie zu diesem Vorgehen, das von einer Weisheit zeugt, die er so manchem Leser voraus hat, und das bei genauerem Nachdenken vielleicht sogar von mehr Respekt dem Buch gegenüber zeugt.
     
     
     
     
       1 UB und EB ++
       2 R OBERT M USIL ,
Der Mann ohne Eigenschaften.
Neu durchgesehene und verbesserte Auflage, Reinbek bei Hamburg 1981, Band I, S. 459
       3 Ibid., S. 460
       4 Ibid., S. 462
       5 Ibid., S. 462
       6 Ibid., S. 461
       7 EB ++
       8 UB und EB ++

Drittes Kapitel
BÜCHER, DIE MAN VOM HÖRENSAGEN KENNT
    in dem Umberto Eco zeigt, dass es nicht nötig ist, ein Buch in der Hand gehabt zu haben, um detailliert darüber zu sprechen, sofern man nur hört und liest, was andere Leser darüber sagen.
    D IESE T HEORIE der doppelten Orientierung – Bildung ist die Fähigkeit, die Bücher innerhalb der kollektiven Bibliothek einzuordnen und sich innerhalb eines einzelnen Buches zurechtzufinden – bedeutet, dass es unter Umständen gar nicht nötig ist, die Bücher, über die man spricht, in die Hand zu nehmen, um sich eine Vorstellung darüber zu machen und sie auch zu äußern, und dass der Begriff des Lesens sich schließlich von der Vorstellung des materiellen Buchs löst und durch den Begriff der Begegnung ersetzt wird, die durchaus auch mit einem immateriellen Objekt stattfinden kann.
    Doch gibt es noch eine weitere Möglichkeit, sich ein ziemlich genaues Bild zu machen, was in einem Buch steht, ohne es zu lesen. Dazu reicht es, zu lesen oder zu hören, was die anderen darüber schreiben oder sagen. Mit dieser Methode, die Valéry, wie er offen zugibt, bei Proust anwendet, können wir viel Zeit gewinnen. Außerdem kann sie erforderlich sein,
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