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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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gefunden, sich, wenn auch nicht unter sämtlichen Büchern der Welt, so doch zumindest unter den Millionen von Büchern seiner Bibliothek zurechtzufinden. Seine Methode, die von großer Schlichtheit ist, ist ebenso einfach in der Anwendung:
    »Wie ich ihn nicht gleich loslasse, richtet er sich plötzlich auf, er ist förmlich aus seinen schwankenden Hosen herausgewachsen, und sagt mit einer Stimme, die jedes Wort bedeutungsvoll gedehnt hat, als ob er jetzt das Geheimnis dieser Wände aussprechen müßte: ›Herr General‹, sagt er, ›Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!‹«[ 4 ]
    Daher die Überraschung des Generals, als er mit diesem ziemlich speziellen Bibliothekar konfrontiert wird, der sorgsam darauf achtet, nichts zu lesen, und zwar nicht etwa aus Ignoranz, sondern im Gegenteil, um seine Bücher besser zu kennen:
    »Weißt du, das war mir nun beinah wirklich zuviel! Aber er hat es mir, wie er meine Bestürzung gesehen hat, auseinandergesetzt. Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, dass sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ›Wer sich auf den Inhalt einlässt, ist als Bibliothekar verloren!‹ hat er mich belehrt. ›Er wird niemals einen Überblick gewinnen!‹
    Ich frage ihn atemlos: ›Sie lesen also niemals eines von den Büchern?‹
    ›Nie; mit Ausnahme der Kataloge.‹
    ›Aber Sie sind doch Doktor?‹
    ›Gewiß. Sogar Universitätsdozent; Privatdozent für Bibliothekswesen. Die Bibliothekswissenschaft ist eine Wissenschaft auch allein und für sich‹, erklärte er. ›Wieviele Systeme, glauben Sie, Herr General‹, frägt er, ›gibt es, nach denen man Bücher aufstellt, konserviert, ihre Titel ordnet, die Druckfehler und falschen Angaben auf ihren Titelseiten richtig stellt uns so weiter?‹«[ 5 ]
    Musils Bibliothekar hütet sich streng davor, sich in die Bücher zu vertiefen, doch steht er ihnen keineswegs, wie vielleicht anzunehmen wäre, gleichgültig und schon gar nicht feindselig gegenüber. Es ist ganz im Gegenteil seine Liebe zu den Büchern – allerdings zu allen Büchern –, die ihn veranlasst, sich wohlweislich an der Peripherie aufzuhalten, aus Angst, ein allzu ausgeprägtes Interesse für eines unter ihnen könnte die Vernachlässigung der anderen zur Folge haben.
    ∗
    Wenn Musils Bibliothekar mir weise erscheint, dann durch diese Vorstellung des »Überblicks«, und ich bin versucht, seine Ansichten über die Bibliotheken auf die gesamte Kultur anzuwenden: Wer seine Nase in die Bücher steckt, ist für die Kultur verloren, sogar für das Lesen. Denn bei der immensen Anzahl aller existierenden Werke muss notgedrungen eine Entscheidung getroffen werden zwischen dieser Gesamtsicht und dem einzelnen Buch, und jedes Lesen bedeutet angesichts des schwierigen und zeitraubenden Versuchs, das Ganze in den Griff zu bekommen, einen Energieverlust.
    Die Weisheit dieser Haltung liegt in erster Linie in der Bedeutung, die sie dem Gedanken der Gesamtheit einräumt, weil sie damit zu verstehen gibt, dass die wahre Bildung so umfassend wie möglich sein muss und sich nicht auf das Anhäufen von Einzelwissen beschränken darf. Und darüber hinaus führt die Suche nach dieser Ganzheit zu einem anderen Blick auf das einzelne Buch, denn man lässt dabei dessen Individualität hinter sich, um sich für die Beziehungen zu interessieren, die es zu den anderen unterhält.
    Und genau diese Beziehungen muss der wahre Leser zu erfassen suchen, wie es Musils Bibliothekar richtig verstanden hat. So interessiert er sich wie viele seiner Berufskollegen weniger für die Bücher als für die Bücher über die Bücher:
    »… ich sage noch etwas von etwas wie von Eisenbahnfahrplänen, die es gestatten müssen, zwischen den Gedanken jede beliebige Verbindung und jeden Anschluß herzustellen, da wird er geradezu unheimlich höflich und bietet mir an, mich ins Katalogzimmer zu führen unddort allein zu lassen, obgleich das eigentlich verboten ist, weil es nur von den Bibliothekaren benützt werden darf. Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des
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