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Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat

Titel: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat
Autoren: Pierre Bayard
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wesentlich ist.
    ∗
    Musils Roman spielt zu Beginn des letzten Jahrhunderts in einem Land namens Kakanien – eine humoristische Umsetzung des österreichisch-ungarischen Reichs. Dort wird die »Parallelaktion« gegründet, eine »vaterländische Bewegung«, die den bevorstehenden Geburtstag des Kaisers würdig begehen und die Feier gleichzeitig dazu nutzen soll, der restlichen Welt ein erlösendes Vorbild zu geben.
    Die Verantwortlichen dieser Parallelaktion, von Musil als lächerliche Hampelmänner dargestellt, sind also alle auf der Suche nach einem »erlösenden Gedanken«, den sie unablässig in einem Stil heraufbeschwören, der umso vager bleibt, als sie nicht die leiseste Ahnung haben, wie er aussehen könnte, noch was ihn auszeichnen soll, außerhalb des Landes eine Heilsfunktion auszuüben.
    Eine der lächerlichsten Figuren unter den Initiatoren der Parallelaktion ist General Stumm. Dieser hat sich vorgenommen, den erlösenden Gedanken vor allen anderen zu finden und ihn der Frau, die er liebt, zu schenken, Diotima, eine weitere Persönlichkeit im Umfeld der Parallelaktion:
    »›Du erinnerst Dich‹, sagte er, ›daß ich mir in den Kopf gesetzt habe, den erlösenden Gedanken, den Diotima sucht, ihr zu Füßen zu legen. Es gibt, wie sich zeigt, sehr viele bedeutende Gedanken, aber einer muß schließlich der bedeutendste sein; das ist doch nur logisch? Eshandelt sich also bloß darum, Ordnung in sie zu bringen.‹«[ 2 ]
    Wenig vertraut mit Gedanken und ihrer Handhabung, noch weniger mit der Technik, neue zu entwickeln, beschließt der General, sich in die Hofbibliothek zu begeben, ein grundsätzlich idealer Ort, um sich mit ungewöhnlichen Gedanken auszustatten, wo er sich »über die Stärke des Gegners Klarheit zu verschaffen« und auf eine möglichst organisierte Weise zu der originellen Idee zu gelangen hofft, nach der er sucht.
    ∗
    Der Besuch in der Bibliothek jedoch versetzt den General, der unter Büchern nicht zu Hause ist, in große Angst, da er mit einem Wissen konfrontiert wird, das ihm keinerlei Orientierung bietet und über das er nicht die vollständige Befehlsgewalt hat, die er als Militär gewohnt ist:
    »Wir sind den kolossalen Bücherschatz abgeschritten, und ich kann sagen, es hat mich weiter nicht erschüttert, diese Bücherreihen sind nicht schlimmer als eine Garnisonsparade. Nur habe ich nach einer Weile anfangen müssen, im Kopf zu rechnen, und das hatte ein unerwartetes Ergebnis. Siehst du, ich hatte mir vorher gedacht, wenn ich jeden Tag da ein Buch lese, so müßte das zwar sehr anstrengend sein, aber irgendwann müßte ich damit zu Ende kommen und dürfte dann einegewisse Position im Geistesleben beanspruchen, selbst wenn ich ein oder das andere auslasse. Aber was glaubst du, antwortet mir der Bibliothekar, wie unser Spaziergang kein Ende nimmt und ich ihn frage, wieviel Bände denn eigentlich diese verrückte Bibliothek enthält? Dreieinhalb Millionen Bände, antwortet er!! Wir sind da, wie er das sagte, ungefähr beim siebenhunderttausendsten Buch gewesen, aber ich habe von dem Augenblick an ununterbrochen gerechnet; – ich will es dir ersparen, ich habe es im Ministerium noch einmal mit Bleistift und Papier nachgerechnet: Zehntausend Jahre würde ich auf diese Weise gebraucht haben, um mich mit meinem Vorsatz durchzusetzen!«[ 3 ]
    Von dieser Konfrontation mit der Unendlichkeit der Lektüremöglichkeiten ist es nicht mehr weit bis zu dem Gedanken der Ermutigung zum Nichtlesen. Denn wie sollte man angesichts der unermesslichen Zahl von veröffentlichten Büchern nicht zum Schluss kommen, dass jedes Leseunterfangen, selbst wenn es auf ein ganzes Leben verteilt wird, vergebliche Liebesmüh ist im Hinblick auf all die Bücher, die für immer unbeachtet bleiben müssen?
    Lesen bedeutet in erster Linie nicht lesen, und selbst bei den großen Lesern, die ihr ganzes Leben dieser Tätigkeit verschrieben haben, verbirgt die Geste des Ergreifens und Öffnens eines Buches stets die ihr entgegengesetzte, die darin enthalten ist und demzufolge unbemerkt bleibt: die unfreiwillige Geste des Nichtergreifens oder Zuklappenssämtlicher Bücher, die bei einer anderen Organisation der Welt an die Stelle des glücklich auserwählten hätten treten können.
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    Der Mann ohne Eigenschaften
greift zwar das alte Problem von Kultur und Unendlichkeit auf, doch stellt er auch eine mögliche Lösung vor, jene nämlich, die sich General Stumms Bibliothekar zu eigen macht. Denn dieser hat ein Mittel
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