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Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Wie man leben soll: Roman (German Edition)

Titel: Wie man leben soll: Roman (German Edition)
Autoren: Thomas Glavinic
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Rede mehr vom eigenen Schopf. Tante Ernestine flucht wie ein Kutscher.
    Erst dann folgt die eigentliche Begrüßung. Von einer Sekunde zur anderen ist Tante Ernestine milde und fröhlich. Man wird von ihr geküsst, sie nennt einen Goldkind. Man ist ihr unbestrittener Liebling. Wenn man sie besucht, sieht man, wie sich ihre Miene aufhellt. Und man freut sich ebenfalls, sie zu sehen, mehr als bei allen anderen Menschen. Claudia nunmehr natürlich ausgenommen.
    Man muss sich mit ihr ans Fenster stellen. Die Ereignisse auf der Straße zu verfolgen ist ihre Lieblingsbeschäftigung. Ein Auto fährt vorbei. Sie streckt den Arm aus.
    – Das ist dieser neue Mazda. Mazda   … dreihundertzwanzig. Den sollte sich deine Mutter kaufen.
    Man quittiert diesen Ratschlag mit Schulterzucken. Mutter wird sich nie ein Auto kaufen, sie fährt zu schnell und hat Angst vor der eigenen Courage. Aber das ist Tante Ernestine nicht beizubringen. Man hört sich eine Weile ihre automobilistischen Vorträge an, für die sie in der Familie berühmt ist.
    Es wird Zeit fürs Café. Sie liebt es, im Café zu sitzen und von den Wirtsleuten über aktuelle Vorgänge in der Nachbarschaft unterrichtet zu werden.
    – So nehme ich dich nicht mit! Da muss ich mich ja genieren!
    – Was passt denn schon wieder nicht?
    – Deine Frisur! Othmar   … Wolfgang   … Martin   … Hans   …–sie zählt alle männlichen Vornamen auf, die in der Familie vorkommen, ohne den richtigen zu finden – geh ins Bad! Frisier dich!
    Aussichtslos, darüber zu streiten. Tante Ernestine ist stur. Und im Café gibt es Malakofftorte und ein paar Hunderter. Man geht ins Bad. Frisiert sich. Merkt, dass man aufs Klo muss. Unbedingt, auf der Stelle, jetzt und hier. Das ist fatal. Denn in ihrer krankhaften Sparsamkeit weigert sich Tante Ernestine, Klopapier zu kaufen. Man muss sich mit der
Kronenzeitung
den Hintern abschinden.
     
    Merke: Wenn man auf dem Klo sitzt, singt man, das tut man schon seit jeher.
     
    Da man ein miserables Gedächtnis hat, merkt man sich die Texte nicht, und so erfindet man zu einer bekannten Melodie etwas Eigenes, noch nie Dagewesenes. Dabei erlegt man sich beim Dehnen von Silben und Verstümmeln von Wörtern keine Hemmungen auf, und auch die Sinnfrage ist keine absolute. Hauptsache, die Worte passen zum Rhythmus. Zuweilen vergisst man dabei, wo man sich befindet.
    Und so schmettert man auf Tante Ernestines Toilette zur Melodie von
Yellow Submarine
einen Text, der einem gerade so einfällt:
    In der Stadt, wo ich geborn
    Lebt ein Mann mit einem Horn
    Er ist gelb und er ist fett
    Nur die Viecher finden ihn nett
    Und der Sieg ist deshalb mein,
    (…)
     
    Weiter kommt man nicht, weil Tante Ernestine an die Tür trommelt, man solle auf der Stelle aufhören, so ordinär zu singen, und überhaupt sei das Katzenmusik. Tante Ernestine ist die Einzige, die so etwas sagen darf und einen nicht kränkt.

 
    Wenn man in Claudia verliebt ist und dennoch romantische Gefühle für deren Freundin Veronika hegt, deren Herz man jedoch nie gewinnen wird, weil man weder über die dazu erforderliche Schönheit noch über Ausstrahlung verfügt, ganz zu schweigen vom Mut und vom Charakter und vom Temperament und von der Fortune und vom Sex-Appeal und vom Charme und von der Geduld und von der Weisheit, ist das Grund genug, sich ein wenig dem Weltschmerz zu ergeben.
    In verschiedenen Ratgebern, deren Lektüre man seit Längerem schätzt, hat man gelesen, Selbstmitleid sei eine Haltung, über die man die Nase rümpfen sollte, aber ein wenig Geschluchze hier und ein paar Verschwörungstheorien da könne man sich gestatten, weil man danach wieder freier atme.
    Da es Februar ist, beginnt es schon nachmittags zu dunkeln. Um etwas Draufgängerisches zu tun und sich selbst zu imponieren, was zuweilen eine kathartische Wirkung hervorzubringen imstande ist, sperrt man sich in seinem Zimmer ein. Depressiv ist man sowieso, weil man
Die letzten Kinder von Schewenborn
gelesen hat und sich seither noch mehr vor einem Atomkrieg fürchtet.
    Man dreht das Licht ab. Zieht die Vorhänge zu. Aus einer mächtigen Tasse trinkt man schwarzen Kaffee, obwohl man ihn ohne Milch und Zucker grässlich findet und einem schon nach ein paar Schlucken speiübel ist. Man raucht filterlose Zigaretten. Selbstgedrehte wären eindrucksvoller, doch man hat nicht die nötige Fingerfertigkeit, sie herzustellen.
    So sitzt man da, starrt in die Dunkelheit, in der in regelmäßigen Abständen die Spitze einer
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