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White Horse

White Horse

Titel: White Horse
Autoren: Alex Adams
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kommt auf mich zu, und ich schwinge den Stuhl. Mit einem scharfen
Knirschen splittern seine Gesichtsknochen. Blut spritzt auf mein Shirt und
regnet in dicken Tropfen auf meine Haut. Der feuchte Traum eines Moskitos. Ein
paar ausgeschlagene Zähne rollen zu Boden. Sein Mund wird schlaff, und er
stürzt auf den Boden. Ein Fleischberg, besiegt von einer Frau. Der Stuhl
gleitet mir aus den Fingern. Lisa. Ich wanke in die Diele hinaus und schleppe
mich die Stiege hoch.
    ZEIT: DAMALS
    Ich erfahre seinen Namen von einer Freundin, die ihn
ihrerseits von der Freundin ihrer Schwester hat.
    Â»Du musst ihn unbedingt anrufen«, drängt meine Freundin mit jener
übertriebenen Begeisterung, wenn man Neuigkeiten aus dritter Hand weitergibt.
»Er ist einsame Spitze.«
    Nick Rose. Das klingt eher nach einem braven Schreiner als nach
einem Mann, der sich gegen ein fast unerschwingliches Honorar die Probleme
fremder Leute anhört. Nach einem Holzarbeiter. Nach Durchschnitt. Mit so einem
kann ich reden. Das schaffe ich. Denn normalerweise fällt mir bei dem Begriff
Therapeut ein strenger Sigmund Freud ein, der meine Macken auf ein gestörtes
Verhältnis zu meiner Mutter zurückzuführen versucht. Ich finde meine Mutter
ganz in Ordnung, auch wenn ich mich bis jetzt weder bei ihr noch bei meiner
Schwester gemeldet habe.
    Was würde Freud davon halten? Und was dieser Dr. Nick Rose?
    Ich rufe ihn im Freien von meinem Handy an. In der Stadt ist die
Hölle los. Hupkonzerte schweben über dem erbarmungslosen Verkehr. Dicht
gedrängte Körper schieben sich wie ein organisches Förderband über die
Gehsteige. Hier draußen gehen meine Worte im Lärm unter, aber genau das ist es,
was ich will. Ich bin eine vernünftige Frau, aber das Auftauchen des Gefäßes
lässt mich an meinem klaren Verstand zweifeln. Und in mein Innerstes, in jene
Tiefen, wo ich meine sorgfältig in positive Gedanken verpackten Ängste
aufbewahre, schleicht sich eine verrückte Vorstellung: Das Gefäß weiß, wie ich
mich fühle.
    Also stehe ich draußen an einer Straßenecke, halte eine Hand
schützend über das Handymikro und tippe die Nummer ein.
    Ein Mann meldet sich. Ich hatte mit einer Sekretärin oder
Arzthelferin gerechnet. Als ich ihm das sage, spüre ich sofort Gewissensbisse
wegen dieses Vorurteils. Eine tolle Feministin bist du.
    Er lacht nur. »Ich spreche gern selbst mit potenziellen Klienten.
Das vermittelt beiden Teilen einen ersten Eindruck.«
    Klienten. Nicht Patienten. Meine Schultern sacken nach unten. Jetzt
erst merke ich, wie verkrampft ich mich aufrecht gehalten habe. Die Stimme von
Dr. Nick Rose klingt warm und stark wie guter Kaffee. Er scheint oft und gern
zu lachen.
    Und ich mag dieses Lachen, also sage ich: »Nur damit das von Anfang
an klar ist: Ich bin keine derjenigen, die den heimlichen Wunsch hegen, mit
ihrem Vater oder ihrer Mutter ins Bett zu gehen.«
    Ein neuerliches Lachen belohnt mich.
    Wir lachen noch ein paarmal. Die Anspannung schmilzt wie Butter. Und
am Ende erklärt er, dass der Freitagnachmittag mir gehört, wenn ich
einverstanden bin.
    Nach dem Gespräch fühle ich mich erleichtert. Schon der Schritt,
eine Therapiesitzung zu vereinbaren, bewirkt Wunder. Freitag. Heute ist
Dienstag. Das gibt mir drei Tage Zeit, eine Story rund um das Gefäß zu erfinden.
Ein Traum vielleicht. Therapeuten lieben Träume. Denn die Wahrheit kann ich ihm
nicht sagen. Ich kann auch nicht erklären, warum das so ist, weil ich es selbst
nicht weiß. Noch fehlt mir eine Antwort. Ich will nicht, dass er mich für verrückt
hält. Das bin ich nicht. Eher verzweifelt. Was mich quält, ist stille
Verzweiflung und unersättliche Neugier.
    Ich gehe das übliche Programm durch: Aufsperren, wieder Aufsperren,
Öffnen, Schließen, Sperrkette, Sicherheits-Code. Grünes Blinklicht. Alles in Ordnung.
    Das Gefäß wartet bereits auf mich.
    ZEIT: JETZT
    Das leise Schluchzen kommt aus Lisas Zimmer. Ich sage
Lisas Zimmer, obwohl es in Wahrheit nicht ihr, sondern weiß Gott wem gehört.
Wer immer hier früher lebte, hat seine persönliche Habe in Koffer oder
vielleicht auch nur in Kartons gestopft und die Flucht ergriffen.
    Am Ende der Treppe links. Zweiter Eingang rechts. Die Tür steht
offen.
    Lisas Vater ist schlanker als sein Bruder und dürfte um einiges jünger
sein, obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, nur sein
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