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Wernievergibt

Wernievergibt

Titel: Wernievergibt
Autoren: Friederike Schmöe
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allzu vielen Registern aufzutauchen. Die Hauptstadt war keine 200 Kilometer von Stepandsminda entfernt, das Sammeltaxi brauchte gut drei Stunden, wenn alles glatt ging, wenn auf dem Kreuzpass kein Wetterumschwung wartete und kein Passagier kotzen musste. Medea saß hier draußen am Ende der Welt; besser so.
    Am gestrigen Nachmittag, als sie mit Keti Kaffee getrunken hatte, war etwas Dummes passiert. Keti und sie lasen gern im Kaffeesatz. Sie nahmen das nicht ernst. Es war nur eine Möglichkeit, sich etwas Nettes zu sagen, über die Lage im Dorf zu debattieren, einen Nachbarn nach dem anderen durch den Kakao zu ziehen und sich eine Abwechslung zu gönnen. Der Winter in Stepandsminda begann im September und endete im Mai.
    Wo auch immer Medea sich länger niedergelassen hatte – irgendwann kamen die Leute zu ihr und fragten um Rat. Wegen Krankheiten, bevorstehender Geburten, Hochzeiten, Scheidungen oder sonstiger Übel, die einem Menschen in seinem Leben widerfuhren. Offiziell gehörten sie seit der Loslösung von der Sowjetunion dem georgisch-orthodoxen Glauben an. Viel tiefer verwurzelt war bei den meisten eine Ahnung von jenem alten Wissen, das hier knapp unterhalb des Kasbek, des Eisgipfels, wie er auf Georgisch hieß, besonders üppig gedieh. Immerhin, so ging die Geschichte, war Prometheus an den Felsen des vergletscherten Riesen angekettet gewesen, als Strafe für den Frevel, den Menschen das Feuer gebracht zu haben, und die Vögel hatten seine Leber angefressen, aus dem einzigen sadistischen Grund, sein Leiden zu verlängern. Hier also geschahen ab und an mysteriöse Dinge, was Medea nur normal fand an einem Ort, an dem mächtige Götter miteinander im Clinch gelegen hatten. Schon jetzt, am Vormittag, pflegte sich der mürrische Berg hinter Wolkenhaufen zu verbergen. Im Sommer sah Medea ab und zu frustrierte Touristen, die begierig auf ein Foto waren, um es zu Hause vorzuzeigen. Die wenigsten bekamen, was sie wollten. Der Kasbek zeigte sich allenfalls in den frühen Morgenstunden. Man musste also spätestens um 2 Uhr morgens in Tbilissi aufbrechen, um die Kameras rechtzeitig in Stellung zu bringen. Kaum ein Urlauber tat sich eine so unchristliche Zeit an. Und übernachten wollte hier auch niemand. Dem westlichen Auge erschloss sich das Dorf nicht. Sie sahen nur das einfache, oft ärmliche Leben der Bewohner. Ein paar Nachbarn hatten manchmal Touristen aufgenommen. Ganz früher hatte es einmal ein Intourist-Hotel gegeben. Ganz früher …
    Medea raffte die Röcke, während sie durch den Schneematsch immer höher stieg, hielt sich mit der anderen Hand an Ästen und schmalen Stämmchen fest. Im Sommer gewährte der Wald Schatten, jetzt bot er Schutz vor dem Wind. Als sie die letzte Biegung erreicht hatte und zwischen den Bäumen hervortrat, erfassten die klirrend kalten Böen ihr Kopftuch und rissen es beinahe fort. Sie griff danach, band es fest, und sie band es, wie ihre Mutter es getan hatte. Mit dem Knoten im Nacken, die beiden losen Enden über den langen Zipfel geschlungen.
    Der Pfad, der auf die Dreifaltigkeitskirche zuführte, war vereist. Bei besserem Wetter fuhren Allradfahrzeuge, sogar Sammeltaxis hier herauf. Heute wartete die Einsamkeit vergeblich auf Gäste. Der April hexte Frost auf die steilen Hänge. Der Himmel war finster von den Wolken, die sich zwischen den Gipfeln ballten. Medea hatte längst aufgehört, sich über das Wetter Gedanken zu machen. Um ihren Frieden zu finden, brauchte sie keine Äußerlichkeiten. Den verharschten, schmutzigen Schnee, auf dem sie in ihren profillosen Gummistiefeln rutschte, beachtete sie ebenso wenig wie die Krähe, die über dem wenige Meter neben der Kirche ausharrenden Glockenturm kreiste. Jenseits der Kirche wachte die nächste Bergkette. Gleichgültig, grau und kalt.
    Während Medea sich die eiskalten Hände rieb, dachte sie an Keti und die Kaffeetasse. In ihrer Tasse hatte sie etwas gesehen, was nie da gewesen war: Das Gesicht einer Frau. Einer jungen Frau. Und es war zweimal aufgetaucht: Auf der Seite, in der die Zukunft zu lesen war, und gegenüber, wenn sie die Tasse in der linken Hand hielt und in die Vergangenheit blickte. Klar und deutlich wie in einem Spiegel!
    Keti war eine Null, wenn es darum ging, Bilder sprechen zu lassen. Sie pflegte das Restwasser aus ihrer Tasse zu gießen, die Tasse umzudrehen, zu warten, bis der Satz getrocknet war, und die Tasse dann ohne einen Blick an Medea weiterzureichen.
    Medea hatte ab und zu etwas in Ketis
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