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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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weggerannt, irgendwohin, wenn sie plötzlich, aus heiterem Himmel, aufzutauchen drohte? Aber ist das nicht ganz normal? Weicht man nicht automatisch Fragen aus, die man ohnehin nicht beantworten will? Ich senke den Kopf und schweige.
    Also nein, sagt Marie, warum nicht?
    Und weil ich nichts sage, fragt sie noch einmal, warum nicht, Anne, warum hast du es ihm nicht ausgerichtet?
    Ich hebe den Kopf, wage aber nicht, sie direkt anzuschauen, ich konzentriere mich auf ihren Schreibtisch mit dem MP3-Player, der im Spiegel aber nicht zu erkennen ist, er ist nur ein dunkler Fleck. Ich weiß es nicht, sage ich leise, ich weiß es einfach nicht.
    Sie schaut mir unverwandt ins Gesicht, ich fange an zu zittern, ich schwitze und wische mir die verräterischen Handflächen an der Hose ab, während ich vorsichtig sage, es war ein heißer Tag, vielleicht hat mir die Hitze den Verstand geraubt.
    Sie lässt mich nicht aus den Augen, mir wird ganz seltsam unter diesem Blick. Vielleicht habe ich dir einfach nicht geglaubt, sage ich, vielleicht war ich sauer auf dich, es war ja nicht das erste Mal, dass du uns mit deinen Drohungen erpresst hast.
    Sie betrachtet mich so ernst, so neugierig und kühl, als hätte sie mich noch nie gesehen, als wäre es ihr entfallen, dass ich ihre Schwester bin.
    Irgendwo draußen bellt ein Hund, hört aber gleich wieder auf, es gibt nichts mehr außer ihr und mir. Vielleicht habe ich es auch einfach vergessen, sage ich, weil ich es nicht ernst genommen habe.
    Vielleicht, sagt Marie, immer nur vielleicht, und in diesem Moment klingt ihre Stimme so höhnisch wie früher, was bist du doch für ein erbärmlicher Feigling, Anne, hör doch auf, dauernd auszuweichen. Könntest du beschwören, es nicht ernst genommen zu haben? Könntest du es beim Seelenheil unserer Omi beschwören?
    Ich schüttle den Kopf, nein, das könnte ich nicht.
    Siehst du, sagt sie triumphierend, ich hab’s ja gewusst. Sie scheint nachzudenken, dann fragt sie, wolltest du dich an mir rächen?
    Vielleicht, sage ich.
    Wieder schweigt sie, bevor sie die nächste Frage stellt: Und wofür?
    Das weiß ich nicht, sage ich und weiß es im Moment wirklich nicht, obwohl mir früher viele Gründe eingefallen wären, mehr als genug Gründe, aber sie scheinen jetzt keine Bedeutung mehr zu haben.
    Stell dich nicht dümmer, als du bist, fährt sie mich an, plötzlich wieder so unbeherrscht, wie sie es so oft gewesen ist. Los, Anne, gib’s doch endlich zu, du hast gewollt, dass ich sterbe.
    Bist du gestorben?, frage ich. Warum hat man dich nicht gefunden? Wenn du gestorben wärst, hätte man dich doch finden müssen.
    Sie hebt die Schultern, lässt sie wieder fallen, auf einmal ist ihr Zorn wie weggeblasen. Ihr habt mich nicht gefunden, weil ihr mich nicht gesucht habt, sagt sie.
    Ich widerspreche, doch, wir haben dich überall gesucht, unser Vater ist wochenlang in der Stadt herumgefahren und hat nach dir gesucht.
    Aber nicht am richtigen Ort, sagt sie, und als ich nicht antworte, fügt sie hinzu, ihr habt mich nicht am richtigen Ort gesucht, weil du es niemandem gesagt hast.
    Ja, sage ich, aber trotzdem hätte man doch deine Leiche finden müssen, wenigstens das.
    Sie zuckt noch nicht einmal zusammen, als ich das Wort Leiche ausspreche, sie lacht nur auf, kurz und irgendwie stolz, als hätte sie etwas geschafft, was sonst kaum jemandem gelingt, und sagt: In den Bergen gibt es viele Felsspalten, an denen nie ein Wanderer vorbeikommt, und wer weiß, vielleicht wird sie ja noch gefunden, meine Leiche.
    Wieder schauen wir uns lange an, wortlos, aber ohne Zorn, bis sie in einem endgültigen, abschließenden Ton sagt: Das war’s also.
    Ja, sage ich, ja, das war’s also, es tut mir leid, wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen.
    Sie hebt die Hand, dreht die Innenfläche nach oben, eine Bewegung, die ich von ihr kenne, und sagt, lass nur, es ist ja auch egal, vorbei ist vorbei.
    Es ist meine Schuld, sage ich, auch wenn ich es nicht wirklich so gemeint habe, ich konnte doch nicht wissen, dass es dir diesmal ernst war.
    Schuld, sagt sie, was heißt schon Schuld, ich weiß ja auch nicht, was falsch gelaufen ist. Jetzt ist es vorbei, Anne, mach die Schranktür zu.
    Ich gehorche, ziehe mich aus, lösche das Licht und lege mich ins Bett, in Maries Bett, und als ich tapsende Schritte auf dem Fußboden höre, schlage ich die hellblaue Zudecke zurück und rutsche zur Seite, um ihr Platz zu machen.
    Sie streckt sich neben mir aus, unsere Körper berühren
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