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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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unter der Kapuze ihres Sweatshirts verborgen, die Hände tief in den Hosentaschen. Es war dunkel, obwohl es noch gar nicht so spät war, am Bahnhof in Pasing, wo sie oft ihre Zeit verbrachte, hatte sie noch jede Menge Leute getroffen, da war noch was los gewesen, da hatten die Leute sogar um diese Uhrzeit noch etwas vor, aber hier war kaum jemand auf der Straße. Hier trieben sich die Menschen nicht mehr draußen herum, wenn es dunkel wurde, hier zogen sie sich bei Sonnenuntergang in ihre Höhlen zurück und begnügten sich damit, gelangweilt die Knöpfe der Fernbedienung zu drücken. Hier ist der Hund begraben, dachte sie, und nicht nur der Hund, ganz Allach ist ein einziger Friedhof voller lebender Leichen und niemandem fällt es auf.
    Die Laternen malten helle Lichtkreise auf das Pflaster, es regnete nicht mehr, aber die Straßen waren noch nass, in Löchern und Vertiefungen standen kleine Pfützen, in denen das Licht zu tanzen versuchte. Sie hielt den Kopf gesenkt, hatte den Blick auf den nächsten Lichtkreis gerichtet und ging mit zögernden Schritten darauf zu, immer wieder stockend, als müsste sie gegen eine unsichtbare Wand ankämpfen, als hätte sich ihr innerer Widerstand nach außen verlagert, als wollte sie nicht wirklich vorwärtskommen. Doch dann sprang sie plötzlich leichtfüßig wie ein Kind in den nächsten Lichtkreis, der aus dem Schatten auftauchte wie eine andere Welt, wie ein Versprechen auf ein anderes Leben, und einen Moment lang stand sie lichtübergossen da, eine Goldmarie im Schein der Straßenlaterne, und dabei wusste sie doch genau, dass sie keine Goldmarie war, keine verwunschene Prinzessin, die irgendwann erlöst werden konnte, und auch kein Aschenputtel, das darauf wartete, dass ihr der Prinz den Schuh hinhielt.
    Wie sie sich ihren Prinzen vorgestellt haben könnte? Keine Ahnung, wir haben uns schon damals nichts mehr erzählt.
    Sie stieß mit dem Fuß gegen einen Stein, stolperte und konnte sich gerade noch fangen. Unwillkürlich traten ihr Tränen in die Augen und liefen über ihre Wangen, und sie wusste nicht, warum sie weinte. Sie fuhr sich mit dem Ärmel über das Gesicht, um die Tränen abzuwischen, und schob alle Gedanken an Prinzen und an Erlösungen energisch zur Seite. Wart nur, wart nur, wirst schon sehen, sagte sie leise vor sich hin, wie ihre Großmutter das immer gesagt hatte, rhythmisch wie eine Litanei oder wie eine magische Beschwörungsformel, wart nur, wart nur, wirst schon sehen.
    Was ist es, was ich sehen werde, dachte sie, was werde ich sehen, wenn ich zu Hause ankomme? Doch nur das, was ich all die Jahre gesehen habe, nichts, was ich sehen will, nichts, was mir Freude macht, nichts, wonach ich mich sehne. Alles, wirklich alles, ist schon so oft gesehen worden, ist abgenutzt und grau und unansehnlich geworden. Vielleicht, aber nur vielleicht dachte sie bereits jetzt an einen Weg, der in eine andere Richtung führte, in ein anderes Leben, in dem der Himmel blauer war und die Sonne wärmer schien, in eine Zukunft, von der man noch nicht wissen konnte, ob sie halten würde, was sie versprach. Wart nur, wart nur, wirst schon sehen.
    Manchmal fuhr ein Auto an ihr vorbei. Wenn es von vorn kam, wurde sie von den Scheinwerfern geblendet, und sie hob schützend den Unterarm vor die Augen, bis das Licht gleichgültig über sie hinweggestreift war und es wieder dunkel wurde. Kam es von hinten, warf sie einen langen Schatten vor sich über den Bürgersteig, einen Schatten, der schnell kürzer wurde und sich in der Dunkelheit auflöste, sobald das Auto vorbei war und sie noch für kurze Zeit den roten Rücklichtern hinterhersah, die aber auch bald verschwanden.
    Hier, am nördlichen Rand der großen Stadt, gab es keinen Durchgangsverkehr, wer hier fuhr, war Anlieger, wohnte in einem der zwei-, höchstens dreistöckigen Häuser, die unter dem dunklen Himmel ein Muster aus blassen Vierecken bildeten, manchmal eines dicht neben dem anderen, dann wieder mit viel Dunkelheit dazwischen. Das Muster erinnerte sie an früher, als sie noch in die Schule gegangen war und aus lauter Langeweile auf einem karierten Block mit einem Bleistift Kästchen ausgemalt hatte, in verschiedenen Grauschattierungen von hell bis dunkel. Sie lächelte unwillkürlich, als sie daran dachte, gut, dass diese Zeit vorbei war, dass die Schule sie rausgeschmissen hatte.
    Ab und zu sprang ein Hund mit wütendem Gebell an einem Zaun hoch, dann erschrak sie und machte ein paar schnelle Schritte, bevor sie wieder
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