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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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erleben, deshalb habe sie beschlossen, das Kind nicht zu stillen. Der wirkliche Grund wird jedoch gewesen sein, dass sie auf diese Art schon nach sechs Wochen zur Bank zurückkehren konnte. Sie ist immer lieber in der Bank gewesen als zu Hause, zumindest früher war das so, und ein Baby, das nicht gestillt werden musste, konnte man getrost der Fürsorge seiner Großmutter überlassen, einem Kind das Fläschchen geben und seine Windeln wechseln kann schließlich jeder. So hatte sich der Kaiserschnitt nachträglich noch als Wohltat erwiesen.
    Und ich lag, stelle ich mir vor, in meinem Bettchen und war vollauf damit beschäftigt, die Luft an meiner Haut zu spüren, das ungewohnte Schaben der Hemdchen und Jäckchen, die feuchte Wärme der Windeln. Ich hatte genug damit zu tun, Atem in meine Lungen zu saugen und wieder auszustoßen, die unbekannten Gerüche einzuatmen, die mich in den Nasenlöchern kitzelten, und gegen das neue Licht zu blinzeln, das manchmal durch die Schatten vorbeihuschender Krankenschwestern unterbrochen wurde. Ich nehme an, dass Neugeborene am Anfang nichts anderes tun, als Gerüche und Farben und Empfindungen wie warm und kalt, feucht und trocken, weich und rau zu sammeln, um sie sich für ihr späteres Leben einzuprägen, jeder Lufthauch muss wie ein Tornado sein, jeder Sonnenstrahl grell wie eine lodernde Flamme, jeder Geruch eine verwirrende Sensation.
    Ich glaube nicht, dass ich mich nach ihr gesehnt habe, warum hätte ich das auch tun sollen? Die Schwestern versorgten mich mit allem, was ich brauchte, mit Wärme, mit Pflege, mit Nahrung, es fehlte mir an nichts, und bestimmt hatte ich in den gut acht Monaten meiner vorgeburtlichen Existenz bereits durch die Nabelschnur ihren Unwillen mitbekommen, jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass ich mich nach ihr sehnte, ich sehne mich auch heute nicht nach ihr.
    Ich halte die berühmte Mutterliebe für ein Märchen, für eine sentimentale Wunschvorstellung, ich glaube nicht, dass jede Mutter ihr Kind liebt und jedes Kind seine Mutter. Auch in der Natur ist es nicht so, dass alle Muttertiere jeden einzelnen ihrer Nachkommen automatisch annehmen und gut versorgen, auch in der Natur wird die Mutterrolle zuweilen verweigert, und nicht nur im Zoo passiert es, dass Jungtiere von ihren Müttern im Stich gelassen werden und sterben, wenn sie nicht von Menschen gefunden und aufgezogen werden. Obwohl man, was den Zoo betrifft, natürlich argumentieren könnte, dass Tiere in der Gefangenschaft ungewöhnliche und unnatürliche Verhaltensweisen entwickeln. Aber wer kann schon sicher wissen, welche Verhaltensweisen Menschen unter bestimmten Lebensumständen entwickeln?
    Nein, ich glaube nicht, dass ich mich nach ihr gesehnt habe. Vielleicht nach Omi, obwohl ich sie noch nicht kannte, ich hatte ihr Gesicht ja höchstens durch die Scheibe gesehen und konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen, welche Rolle sie für mich spielen würde. Natürlich weiß ich, dass Neugeborene noch nicht fixieren können, trotzdem bin ich überzeugt, dass sich, als wir uns zum ersten Mal sahen, unsere Blicke trafen und ich sofort spürte, dass ich für sie bestimmt war. Was sie empfand, werde ich wohl nie erfahren, denn natürlich habe ich sie kein einziges Mal danach gefragt, vielleicht weil ich nicht auf die Idee gekommen bin, vielleicht aber auch, weil ich Angst vor ihrer Antwort hatte. Trotzdem bin ich überzeugt davon, dass ich gleich beim ersten Sehen ihr Bild gierig in mich aufsog. Ich halte es sogar für möglich, dass mir, trotz der Glasscheibe, schon ihr Geruch nach Kampfer und Franzbranntwein in die Nase stieg und ich sie später, als sie mich das erste Mal auf dem Arm hielt, daran erkannte.
    Jedenfalls gehörte ich vom ersten Moment an ihr. Ich liebte sie und wollte von ihr geliebt werden. Doch da gab es ja noch Marie. Marie hatte einen Vorsprung von drei Jahren, den konnte ich nicht aufholen, nie, sosehr ich es auch versucht habe. Dafür war Marie zu schön, zu besonders und zu willensstark.

Zwei
    Die Geschichte von Marie und mir hätte natürlich auch ganzanders anfangen können, vermutlich gibt es Hunderte verschiedener Anfänge für die gleiche Geschichte, es kommt darauf an, von welchem Gesichtspunkt aus man die Sache betrachtet und welchen Moment des Einstiegs man wählt. Marie würde vielleicht mit einer ganz anderen Geschichte anfangen, mit der von der Goldmarie.
    Sie war siebzehn, bald achtzehn, als sie eines Abends durch die Straßen lief, die roten Haare
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