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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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schob meinen Laptop in ein Regalfach, drapierte meine Einkäufe auf die Schreibplatte vor dem Fenster und hängte das Schild Bitte nicht stören, das ich mal aus einem Hotel mitgenommen hatte, außen an meine Tür. Ich spitzte erst den einen Bleistift, dann die beiden anderen und legte sie griffbereit neben den Block, darüber den Spitzer und den Radiergummi, und bevor ich mich endlich hinsetzte, wischte ich noch mit der Hand die Fuseln und den Staub von der Resopalplatte, erst dann klappte ich den Block auf.
    Leichte Panik ergriff mich, als die linierte Seite vor mir lag, nackt und unbeschrieben. Das schaffst du nie, dachte ich, doch dann beruhigte ich mich, denn mir fiel ein, dass ich über dieses Phänomen schon mal was gelesen hatte, vermutlich war es nichts anderes als die Angst des Autors vor dem weißen Blatt.
    Und nun sitze ich da, mit aufgestützten Ellenbogen, und überlege, womit ich anfangen könnte. Im Haus gegenüber, im ersten Stock, gießt Freddy, einer der beiden schwulen Bewohner, gerade die Blumen auf dem Balkon, Kästen mit Geranien, Margariten und Begonien, und in einem Kübel wächst irgendwelches Grünzeug, was genau, das kann ich von hier aus nicht erkennen, nur ein Lorbeerbäumchen, daher nehme ich an, dass es sich wohl um Küchenkräuter handelt. Über uns spielt jemand Klavier, die Töne trudeln durch das gekippte Fenster in mein Zimmer. Das ist Isabel, die einzige Tochter der Rosenfelds aus dem zweiten Stock, ein mageres Ding, das scheu und hastig grüßt, wenn sie einen auf der Treppe oder vor dem Haus trifft. Sie spielt etwas Klassisches, eine Sonate oder so was, keine Ahnung, ich weiß fast nichts von Musik, konnte noch nie viel damit anfangen, ich ziehe Stille vor, vielleicht weil ich in einer Nacht geboren wurde, als es so kalt und still war, dass man die Schneeflocken auf die Erde fallen hörte. Jedenfalls war ich in dieser Hinsicht schon immer anders als Marie, sie und das Radio, sie und ihr CD-Player, sie und ihr MP3-Player, sie hat mich fast in den Wahnsinn getrieben, immer wenn ich es mir im Wohnzimmer bequem gemacht hatte und lesen wollte, kam sie an und ließ irgendwelche laute Musik laufen, nur um mich zu provozieren. Ich steckte mir Ohropax in die Ohren und versuchte, mich zu konzentrieren, aber das ist fast unmöglich, wenn sich gedämpfte, verzerrte Geräusche durch die Ohrwindungen schlängeln und im Gehirn festsetzen.
    Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und fauchte, verdammt, Marie, kannst du das blöde Ding nicht mal für eine Stunde ausmachen?
    Ich sage dir ja auch nicht, dass du deine blöden Bücher mal für eine Stunde weglegen sollst, sagte sie.
    Ich lese leise, das kannst du nicht hören.
    Na und? Ich sehe dich doch, ich sehe dir am Gesicht an, was du denkst, du kannst es ruhig laut sagen, du hältst mich für eine blöde Kuh, die sich immer nur alberne Musik anhört und höchstens kitschige Liebesromane liest.
    Es endete regelmäßig damit, dass ich das Buch zuklappte und hinüberlief zum Allacher Forst, dort rannte ich so lange, bis ich müde war und meinen Zorn totgetrampelt hatte, Laufen hat mir schon immer geholfen, es hilft mir bis heute.
    Aber ihr ewiges Gedudel und die daraus folgenden Auseinandersetzungen waren nicht der Anfang, das war einfach normal, nichts Außergewöhnliches. Wenn ich nur wüsste, womit ich am besten anfange. Mit ihrer Krankheit? Nein, noch nicht, die hebe ich mir für später auf. Mit den ständigen Streitereien zwischen ihr und mir, zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter, zwischen meiner Mutter und uns? Nein, die waren so alltäglich, dass wir uns darüber nicht weiter aufregten, Marie nicht und ich auch nicht. Mit der Szene, die sie machte, als unsere Eltern sich weigerten, ihr zu ihrem sechzehnten Geburtstag einen Roller und den entsprechenden Führerschein zu finanzieren, mit der Begründung, das können wir uns nicht leisten und außerdem ist es zu gefährlich? Das war, soweit ich mich erinnere, das einzige Mal, dass sie nicht das bekam, was sie wollte. Sie hat dann zwar noch versucht, unsere Eltern auszutricksen, sie zu erpressen, aber es ist ihr nicht gelungen. Nein, auch das war nicht der Anfang, es war eine Eskalation, das ja, aber nicht die einzige, und außerdem hat die Sache nicht lange gedauert. Marie hat die nächsten drei Tage nicht mit uns gesprochen, aber das war’s dann auch, schließlich hatte sie ja den MP3-Player und hat am Schluss sogar noch ein neues Fahrrad rausgeschlagen. Ich habe damals übrigens
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