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Wer morgens lacht

Wer morgens lacht

Titel: Wer morgens lacht
Autoren: Mirjam Pressler
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eine Antwort: Geschichten. Im Geschichtenerfinden waren wir immer gut, beide, ich Anne, sie Marie. Geschichten sind keine Lügen, auch keine Ausreden, man braucht sie, um mit der Realität fertig zu werden, um sich eine andere, eigene Wirklichkeit aufzubauen. Und ich werde das, was ich zu sagen habe, nicht einfach erzählen, beschloss ich, Worte sind flüchtig, man kann sich leicht verhören, und wenn sie ausgesprochen sind, fliegen sie mit dem kleinsten Windhauch davon, nein, ich werde alles aufschreiben, nachvollziehbar und, bis zu einem gewissen Grad, auch nachprüfbar. Vielleicht gelingt es mir ja, Marie aufs Papier zu bannen und dadurch aus meinem Leben zu vertreiben.
    Auf dem Weg nach Hause überlegte ich, was ich alles brauche, um meinen Plan auszuführen, und beschloss, Block und Bleistift zu benutzen, erstens schreibe ich gern mit der Hand, der etwas langsamere Rhythmus zwingt mich zu langsameren Gedanken, und zweitens ist mit der Hand zu schreiben persönlicher, intimer und deshalb vielleicht auch ehrlicher, zumindest aufschlussreicher. Der Computer, dachte ich, gehört zum Studium, zu Seminararbeiten und zur Vorbereitung der Bachelorarbeit, mit der ich endlich anfangen sollte, das Schreiben mit der Hand passt besser für Privates.
    Als ich die Wohnungstür aufschloss, schob Kevin, unser jüngster Mitbewohner, den Kopf aus der Küche und fragte, wer auf die blöde Idee gekommen sei, diesen ekelhaften Billigschinken zu kaufen, ob derjenige uns etwa vergiften wolle, weißt du eigentlich, wie dieses Zeug hergestellt wird? Man nimmt Fleischfasern von irgendwelchen Abfällen und klebt sie zusammen, bis sie aussehen wie Schinken, pfui Teufel, kann ich da nur sagen.
    Ich ging wortlos an ihm vorbei und machte meine Zimmertür auf.
    Danke für die erschöpfende Auskunft, rief er mir hinterher, es geht doch nichts über eine gepflegte Konversation.
    Ich zog meine verschwitzten Klamotten aus, duschte, suchte mir etwas Frisches zum Anziehen und steckte mein Handy ein, dann schnappte ich meine große Schultertasche, in der sich mühelos ein DIN-A4-Block verstauen lässt, und machte mich auf den Weg. Im Vorbeigehen rief ich in die Küche: Ricki!
    Was?, fragte Kevin.
    Ricki hat beim Discounter eingekauft, sagte ich, das Haushaltsgeld ist mal wieder knapp.
    Das ist doch echt das Letzte, als Medizinstudentin sollte sie es eigentlich besser wissen, maulte Kevin, verzog angewidert das Gesicht und biss in sein Brot.
    Ich gehe zu McPaper, soll ich dir was mitbringen?, fragte ich, obwohl ich wusste, dass es ein ziemlich schwacher Versuch war, freundlich und interessiert zu erscheinen, aber immerhin war es einer.
    Kevin schien es auch so zu sehen, er hob die Schultern, ließ sie wieder fallen und sagte, da fällt mir gerade nichts ein.
    Dann eben nicht, sagte ich, erleichtert, weil es mir erspart blieb, mich um etwas anderes kümmern zu müssen als um meinen eigenen Kram.
    Bei McPaper betrachtete ich unschlüssig die verschiedenen Blöcke, bis ich mich für das Modell mit den aufgedruckten Monstern entschied, das schien mir angemessen. Lächerlich natürlich, ich bin ja kein Kind mehr, ich bin zweiundzwanzig, zu alt für solche Albernheiten, aber manche Verhaltensmuster schleifen sich einfach zu tief ein. Dann wählte ich drei Bleistifte, blaue, weil Blau immer ihre Lieblingsfarbe war, jahrelang lief sie mit blau lackierten Finger- und Fußnägeln herum, und schließlich suchte ich mir noch einen Radiergummi und einen Spitzer aus, alles musste neu sein, als wäre neues Schreibmaterial eine Garantie für neue Gedanken, für neue Erkenntnisse, für ein neues Leben. Auch solche absurden, abergläubischen Gewohnheiten scheinen sich einzuschleifen.
    Zu Hause fing mich Kevin ab und sagte, er habe einen Hunni in die Kasse gelegt, als Dreingabe. Dreingabe, dachte ich, was für seltsame Wörter er manchmal benutzt. Ich lobte ihn nicht für seine Großzügigkeit, ich hatte keine Lust auf eine Unterhaltung, und außerdem erwartete er auch nicht, für seine Spende besonders gelobt zu werden. Unser hübscher Welpe ist zwar manchmal ein kleiner Angeber, aber hinter seinem Reicherleutesöhnchengetue verbirgt sich ein freundlicher, gutmütiger Mensch, er muss einfach noch ein bisschen nachreifen, wie ein zu früh gepflückter Pfirsich.
    In meinem Zimmer räumte ich den Tisch ab, stapelte alle Papiere, alle Exzerpte und Fotokopien, die zur Vorbereitung meiner Arbeit gehören, links unter den Tisch auf den Boden, um sie außer Sichtweite zu haben,
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