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Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Wer hat Angst vorm boesen Wolf

Titel: Wer hat Angst vorm boesen Wolf
Autoren: Karin Fossum
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übernommen. Durch seinen Selbstmord hatte Tormod sich auf etwas Praktisches reduziert, das sie so dringend brauchten: ein freies Bett. Wirklich eine überraschende Verwandlung, dachte er. Tormod war nicht mehr Tormod, er war ein freies Bett. Und er selbst würde auch zu einem leeren Bett mit strammgezogenem Laken werden. Er lauschte auf die Stimme und nickte vage, dann schlenderte er weiter durch den dichten Wald. Als die Nachtwache endlich durch seinen Türspalt lugte, war er schon seit zwei Stunden auf der Landstraße unterwegs. Die Nachtwache wagte nicht, von ihrer Unterhaltung zu berichten. Nein, mir ist nichts aufgefallen, er war wie immer. Die Sonne stand jetzt hoch am Himmel und traf sie durch das Fenster des Stationszimmers, wo sie ihre Morgenbesprechung ab hielten, mitten ins Gesicht. Die Worte brannten ihr wie Säure im Hals.
    Er ging am Reitstall vorbei. Hörte die großen dunklen Tiere unruhig mit den Hufen scharren. Eines hatte ihn bemerkt und schnaubte heftig. Er sah sie aus dem Augenwinkel und spürte die bedrückende Sehnsucht, bei ihnen, wie sie zu sein. Niemand geht zu einem Pferd und fragt: Wer bist du? Dem Pferd wird die Last auferlegt, die es tragen kann, danach darf es sich ausruhen. Und ein Pferd, das nichts leistet, bekommt eine Kugel in den Kopf. Einfach. Tag für Tag. Mit einem Kind auf dem Rücken über die Koppel wandern. Aus der alten Badewanne trinken. Im Stehen schlafen, mit gesenktem Kopf. Insekten abschütteln. Bis die Zeit um ist.
    Er ging die Landstraße entlang. Bald würden die Menschen sich aus Decken und Laken befreien. Würden aus Ameisenhügeln und Höhlen quellen, er spürte das schon jetzt wie ein Zittern in der Luft. Bald würde der Verkehr einsetzen. Errki ging jetzt schneller. Besser, er verzog sich wieder in den Wald. Ein seltenes Mal hob er den Kopf. Er liebte den Wald, der immer in Bewegung war, den flimmernden Lichtschein zwischen den Blättern und den Grasgeruch in seinen breiten Nasenlöchern. Das Geräusch von Zweigen und Heidekraut, die unter seinen Füßen sanft nachgaben. Bäume, grau und trocken, die einfach nur dastanden, im Boden verankert. Er brach ein Farnblatt ab und hielt zugleich die Wurzel in der Hand. Hielt sie sich vor die Augen und murmelte: Wurzel, Stengel und Blatt. Wurzel, Stengel und Blatt.
    Schließlich war er müde. In der Ferne sah er eine Felskuppe und darunter einen dunklen Schatten. Er steuerte darauf zu und rollte sich im Gras zusammen. Die ganze Zeit horchte er auf die Stimme. Die Stimme summte in ihm, sanft und gleichmäßig wie eine Turbine. In der Tasche hatte er ein Schraubglas. Der Schlaf
    ist der Bruder des Todes, dachte er und schloß die Augen.
    Er befand sich am Rand einer Hochebene.
    So konnte nur Errki gehen, schwer und schleppend wie eine flügellahme Krähe, und doch schnell. Alles an ihm schlotterte vor sich hin, die langen Haare, die offene Jacke, die Hose mit dem breiten Schlag, die er schon lange nicht mehr abgelegt hatte. Eine alte Polyesterhose, die streng nach Schweiß und Urin roch. Er hielt den Kopf schräg, so als sei an seinem Hals eine Sehne gerissen, und er schaute nur selten auf. Er starrte eifrig den Boden an und sah nur seine stetig weitertrabenden Füße. Sie gingen von selbst. Er brauchte kein Ziel, er konnte stundenlang laufen, ohne müde zu werden, immer weiter, wie ein aufgezogenes Spielzeug mit Schlüssel im Rücken und gespannter Feder.
    Er war ein Mann von vierundzwanzig, mit schmalen Schultern und überraschend breiten Hüften. Seine schlechten Hüftgelenke waren ein Familienerbstück. Er brauchte einen ganz besonderen Hüftschwung, um die Beine bewegen zu können. Einen gereizten Schwung, als wollte er sich von einer unangenehmen Last befreien. Zahllose Leute hatten ihm deswegen schon erzählt, er habe einen Gang wie ein altes Weib. Sein Hals war ebenfalls dünner und länger als der der meisten Männer, fast zu dünn, um das Gewicht seines Kopfes zu tragen. Nicht, daß sein Kopf außergewöhnlich groß gewesen wäre, aber sein Inhalt war einwandfrei schwerer als bei vielen anderen Menschen.
    Errki wog nur sechzig Kilo und aß nicht viel. Es fiel ihm so schwer, sich zu entscheiden. Brot oder Cornflakes? Wurst oder Hamburger? Apfel oder Banane? Wie schafften die anderen es eigentlich, dauernd solche Entscheidungen zu treffen? Wie konnten sie sicher sein, daß sie richtig gewählt hatten?
    In der Hosentasche hatte er ein Glas mit Schraubverschluß, und dieses Glas enthielt alles, was er brauchte, um
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