Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wenn Es Dunkel Wird

Wenn Es Dunkel Wird

Titel: Wenn Es Dunkel Wird
Autoren: Manuela Martini
Vom Netzwerk:
Tag. Ja, ich konnte es nicht mehr abwarten, endlich meinen Rucksack zu packen und mit Claas nach Südfrankreich abzuhauen. Die letzten Wochen hab ich zwei Schichten im Café gearbeitet, um noch das nötige Geld zusammenzukriegen. Und ich hasse diese Arbeit. Ich hasse den Geruch nach süßem Kuchen und milchiger Sahne, nach Putzmittel, mit dem nachher das Kuchenbuffet sauber gemacht werden muss, ich hasse meinen Chef, der die Frauen anglotzt, und ich hasse seine dauergewellte Mutter, die hinter dem Tresen über jede Portion herausgegebenes heißes Wasser wacht, als wäre es ein Goldbarren. Man kann sich also vorstellen, wie viel mir diese Reise wert war.
    Ob ich in Claas verliebt war? Ich glaube, dass ich einfach davon ausgegangen bin, ja, weil es normal gewesen wäre. Schließlich passten wir doch zusammen. Beide Einserschüler, Außenseiter und wir beide hatten ehrgeizige Zukunftspläne. Ich wollte unbedingt Dolmetscherin bei der UNO werden und er, er wollte raus aus seiner spießigen Familie, hinaus in die Welt, am besten als Diplomat.
    Und außerdem hat man sich doch in unserem Alter zu verlieben und einen Freund zu haben, oder?
    Frankreich also. Bevor Claas und ich bei den Geschwistern eintrafen, hatten Tammy und Julian die Villa zum ersten Mal eine ganze Woche für sich allein. Ihre Mutter musste sich in einem Luxus-Wellnesshotel von einer Knie-OP erholen und ihr Mann, Dr. Wagner, Notar mit diesem typischen Ich-weiß-wie-die-Welt-funktioniert-Lächeln – ich hab ein Foto gesehen –, leistete ihr dabei Gesellschaft. Claas, der ja Julian Nachhilfe gab, war übrigens ziemlich beeindruckt von Dr. Wagner – und Dr. Wagner angeblich von ihm.
    Gleich beim ersten Zusammentreffen mit den Geschwistern habe ich für einen Moment ein seltsames Gefühl gehabt.
    Ich glaube, es war ihre Schönheit und Vitalität, die mich beeindruckte – und mir gleich darauf suspekt erschien. So, als müsste sich hinter dieser blendenden, leuchtenden Fassade etwas Düsteres, Hässliches verstecken.
    Hinzu kam die fast unheimliche Ähnlichkeit. Dabei waren sie keine Zwillinge – Julian war fast anderthalb Jahre älter als seine Schwester. Aber beide hatten das gleiche weiche, leicht gelockte goldblonde Haar, die gleichen leuchtenden blauen Augen, dieselbe glatte und sich in der Sonne so mühelos tönende Haut. Und den gleichen Mund mit den vollen Lippen, die sich beim Lachen weit dehnten und perfekte kieselweiße Zähne freilegten. Sie trainierten ihre Körper auf mörderischen Mountainbike-Touren, steilen Klettersteigen, sie fuhren Snowboard, konnten endlose Strecken schwimmen und waren in all diesen Sportarten auch noch gut. Sie hatten einen Code aus einzelnen Worten, die für uns nicht viel bedeuteten, mit denen sie sich aber ganze Geschichten erzählten, sie warfen sie sich zu wie andere Bälle und jeder musste sich unweigerlich von ihnen ausgeschlossen fühlen.
    Ihre schulischen Leistungen waren nicht ganz so überzeugend, erfuhr ich von Claas. Julian musste für das bevorstehende Abi-Jahr ziemlich viel aufholen – wofür sein Vater wie gesagt Claas engagiert hatte und bezahlte –, weshalb er seinem Sohn vorschlug, Claas – auch gern mit Freundin – ins Ferienhaus der Familie einzuladen.
    Das Ferienhaus ist eine exzentrische Villa. Und, ich bin sicher, ohne dieses Haus wäre es wohl nie so weit gekommen, wie es gekommen ist. In den 1930er-Jahren wurde sie von einem wahrscheinlich mindestens genauso exzentrischen Musiker erbaut. Er musste ziemlich romantisch veranlagt gewesen sein, sonst hätte er sich nicht einen solchen Turm auf die erste Etage gebaut und auch nicht diese beiden dramatischen Sphinxe als Wächter auf die Terrasse gesetzt. Und erst der Pool! Zehn Meter lang und vier Meter breit, mit einer bequemen Treppe zum langsamen Eintauchen, Delfinmosaiken an Boden und Seitenwänden. Man hätte glauben können, man wäre im antiken Griechenland. Sogar der Wasserzufluss kam nicht aus Plastikdüsen, sondern aus drei geneigten Amphoren.
    Schon im ersten Augenblick wurde mir klar, dass nicht nur die Menschen ihre Umgebung formen, sondern die Beziehung auch in der anderen Richtung funktioniert, dass die Umgebung die Menschen formt. Lebt man in einem Schloss, fühlt man sich recht schnell erhaben und auserwählt, glaubt, man kann sich alles erlauben und kann andere wie Leibeigene befehligen – lebt man in einer Blechhütte, weiß man, dass man durch Dreck und Unrat waten muss, um zu überleben und irgendwie weiterzukommen.
    Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher