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Weiss wie der Tod

Weiss wie der Tod

Titel: Weiss wie der Tod
Autoren: Roman Rausch
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nicht absehbar, da alle Nachrichtenkanäle auf den Inseln zusammengebrochen waren. Sicher stand bis zu diesem Zeitpunkt lediglich fest, dass eine Fähre, von Tórshavn auf den Färöer-Inseln kommend, nicht mehr über Radar und GPS zu orten war. Auch der Zielhafen Lerwick sendete keine Antwort mehr.
    Antjes ältere, aber kleinere Schwestern Almuth und Amelie hatten in den Tagen zuvor der Norddeutschen Tiefebene viel Regen und Überschwemmungen beschert. Zusammen mit den Schmelzwassern der Elbe und ihren zahlreichen Zuflüssen drohte Hamburg nun Gefahr von zwei Seiten. Die südöstlich der Hansestadt gelegene Staustufe Geesthacht war die letzte Bastion gegen die vordringenden Wassermassen.
    Während der Katastrophenschutz alle Kräfte mobilisierte, blickte Balthasar Levy teilnahmslos aus dem Fenster des Strafjustizgebäudes am Sievekingplatz. Der Regen hämmerte wütend gegen die Scheiben und ließ vor Levys geistigem Auge ein Zerrbild vergangener Ereignisse Revue passieren.
    Seitdem sein Bruder Frank de Meer vor fünf Monaten aus dem Koma erwacht war, hatten sich die Dämonen wieder in Levys Kopf ausgebreitet. Die Schreie seiner Eltern hallten in seinen Ohren wider, er hatte ihre panischen Gesichter vor Augen, als sie von der Feuerwalze zerfressen wurden. Der beißende Gestank von Benzin und schmorendem Fleisch schien in seiner Nase für immer festzusitzen.
    Frank, der für den Tod der Eltern verantwortlich war und in den letzten Jahren weitere unschuldige Menschen grauenvoll ermordet hatte, stand nun vor Gericht. Der Prozess war auf wenige Verhandlungstage angelegt, und das Urteil konnte auf nichts anderes als eine lebenslange Freiheitsstrafe lauten.
    Doch das genügte Levy nicht. Er wusste, dass er sich niemals dem Einfluss seines Bruders würde entziehen können, solange dieser noch am Leben war. Nur dieses eine Mal wünschte er sich die Todesstrafe. Sie sollte beenden, was niemals hätte sein dürfen.
    «Herr Levy!», drang es barsch an sein Ohr. «Hören Sie denn nicht?»
    Levy drehte sich um. «Wie bitte?»
    «Ich habe Sie bereits mehrfach aufgerufen», antwortete der Gerichtsdiener.
    «Entschuldigen Sie. Ich war in Gedanken.»
    «Der Richter wartet. Kommen Sie endlich.»
    Levy nickte und folgte dem hastig zur Tür eilenden Mann.
    Das Schwurgericht stand unter Vorsitz von Richter Jens Windhoek, einem distinguierten Endsechziger, dem Levy in einer anderen Verhandlung zu einer Mordserie bereits begegnet war. An seiner Seite die beiden Beisitzer und die zwei Schöffen, im hinteren Teil des Saales vollbesetzte Reihen mit Angehörigen und Neugierigen.
    «Setzen Sie sich», wies Windhoek Levy an.
    Levy ging die wenigen Schritte auf den ihm vertrauten Zeugenplatz zu – nur dieses Mal nicht in der Rolle des Gutachters, sondern als Zeuge im Prozess gegen seinen Bruder. Er schenkte Frank, der zu seiner Linken auf der Anklagebank saß, keinerlei Aufmerksamkeit. Dennoch spürte er dessen Anwesenheit – aufdringlich, verletzend, mächtig.
    Windhoek stöberte in den Akten, bis er die entsprechende Seite gefunden hatte. «Auch wenn Sie dem Gericht bekannt sind, in einem meiner Verfahren sogar als Gutachter, so machen es die Umstände erforderlich, noch einmal Ihre Personalien aufzunehmen. Sie sind nach vorliegender Aktenlage als Ruben de Meer 1962 in Emmen, Holland, geboren. Nach dem Tod Ihrer Eltern erfolgte die Einweisung ins Waisenhaus und die spätere Adoption durch die Familie Levy …»
    Ein blecherner, zerrissener Ton schnitt Windhoek das Wort ab. Er schaute von seiner Akte auf und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Frank wollte sich zu den Ausführungen des Richters äußern. Er tat dies mit Hilfe eines Gerätes, das an seinem Kehlkopf angebracht war. Der Schuss, der Levy damals das Leben gerettet hatte, war Frank am Hals eingedrungen und hatte seine Stimmbänder verletzt.
    Da war er wieder, sein Bruder. Frank blickte ihm geradewegs in die Augen, und Levy spürte eine beunruhigende Furcht in sich aufsteigen.

2
    E s war nicht leicht gewesen, das Nikolaifleet über die Schleuse an der Hohen Brücke trockenzulegen. Das Wasser im Zollkanal, wie in der gesamten Speicherstadt, stand mehrere Meter über Normalnull, Tendenz steigend. Doch die Suche nach der kleinen Leonie ließ keine andere Entscheidung zu, zumal ein Augenzeuge sie zuletzt in einem Fleetgang in der Deichstraße gesehen haben wollte. Polizisten und Feuerwehrleute waren knietief durch den modrigen braunen Schlamm gestapft, um die kleine Ausreißerin
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