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Weiß wie der Tod

Weiß wie der Tod

Titel: Weiß wie der Tod
Autoren: Roman Rausch
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Schönheitsidealen von Sechzehnjährigen. Lili war auffallend hellhäutig, was durch die Sommersprossen noch akzentuiert wurde, die sich links und rechts der kleinen Nase allen Schminkversuchen zum Trotz behaupteten. Auf Lippenstift und Schmuck verzichtete sie gänzlich und betonte ihr zart wirkendes Gesicht lediglich dadurch, dass sie ihre Haarpracht zu einem Pferdeschwanz bündelte.
    Und noch etwas passte nicht ins Bild eines Mädchens aus der elften Klasse: Lili sprach nicht über Jungs, Klamotten und Musik, sondern über den Förderunterricht, den sie in den Nachmittagsstunden mit den Achtklässern durchführen wollte. Dazu benötigte sie einen frischen Satz an Ölfarben, Pinsel, Malpapier und die Erlaubnis der Rektorin, den Raum der zehnten Klasse zu benutzen, von wo aus die Schüler einen ungehinderten Blick auf den Park hatten.
    Lili Waan war eine der beiden Sozialpädagoginnen, die sich die Schule zur Stärkung der Sozialkompetenz ihrer Schüler leistete.
    »Müssen es denn unbedingt diese teuren Ölfarben sein?«, hörte Lili am Telefon die Rektorin seufzen, »Wachsmalkreiden tun es doch auch, und die sind wesentlich billiger.«
    Lili kannte Einwände dieser Art. Bei der Vorstellung ihres Konzepts Malen wie die Meister war die Rektorin noch begeistert gewesen, doch als es an die Finanzierung der benötigten Utensilien ging, wurde aus der Gönnerin eine Buchhalterin.
    Sie lächelte ins Telefon. »Van Goghs würden heute keine zwanzig Millionen wert sein, wenn sie mit Wachsmalstiften gemalt wären.«
    »Es reicht, wenn Ihre Schüler ein halbwegs stimmiges Bild zustande bringen, das es wert ist, im Klassenraum aufgehängt zu werden.«
    »Ich dachte mehr an die Aula. Das Motiv: Schule und Familie. Damit hätten wir wunderbares Anschauungsmaterial für die nächste Sitzung des Elternbeirats.«
    Die Rektorin rang mit sich. Schließlich gab sie nach: »Nun gut, wenn es unbedingt sein muss … Passen Sie aber auf, dass alle Pinsel und Farbtuben am Ende der Stunde vollzählig sind, damit wir sie wiederverwenden können.«
    Lili versprach es.
    Im Klassenraum wurde sie von drei Jungen und sechs Mädchen empfangen. Erwartungsvoll schauten sie auf die Tasche, die Lili mitgebracht hatte. Pinsel, Farben und Malpapier, das sie bereits vor dem Gespräch mit der Rektorin gekauft hatte, schauten heraus. Sie ließ die Tasche herumgehen, und jeder nahm ein vorbereitetes Set an sich.
    »Nachdem wir in der letzten Stunde das Zeichnen eines Entwurfs mit Kohlestiften geübt haben«, begann Lili, »schreiten wir heute zur Königsdisziplin – dem Malen mit richtiger Profiausrüstung. Geht vorsichtig mit den Farben um. Sie sind sehr kräftig.«
    Die Schüler öffneten die Sets in erwartungsvoller Vorfreude. »Ich möchte, dass ihr mit den Farben experimentiert. Wenn ihr wollt, könnt ihr anstatt des Pinsels auch eure Finger verwenden. Spürt das Material, wie es sich anfühlt, mischt eine Farbe mit einer anderen zusammen und führt dann den Finger über das Papier.«
    »Was sollen wir malen?«, fragte ein Junge.
    »Ihr könnt eure Entwürfe nehmen, oder lasst einfach eurer Phantasie freien Lauf. Schaut zum Fenster hinaus. Seht das Grauschwarz der Wolken, die kurz davor sind, sich zu entladen. Beobachtet den Wind, wie er die Bäume unter seiner Kraft bewegt. Die Natur ist ein dankbares Motiv, gerade jetzt, wenn es scheint, als käme die nächste Sintflut auf uns zu.«
    »So wie bei Noah und der Arche?«
    »Ja, oder wie bei Turner oder Friedrich. Spürt die Natur in euch und was euch damit verbindet. Los jetzt, nicht zu lange nachgedacht. Euer Gefühl ist gefragt.«
    Einige der Schüler legten sofort los, andere folgten Lilis Rat und beobachteten das Treiben jenseits der schützenden Glasscheibe.
    Lili nahm an einem der Tische Platz und ließ die Schüler arbeiten. Sie griff nach ihrem Handy und überprüfte es auf neue Nachrichten, so wie es auch ihre Schüler gern und oft taten.
    Eine Viertelstunde verstrich, als ihr Nicole auffiel, eine frühreife Vierzehnjährige. Sie saß nah am Fenster in der Ecke, drei Tische von den anderen entfernt. Hin und wieder glaubte Lili ein Schniefen von ihr zu hören. So auch jetzt, als Nicole sich mit dem Arm über die Nase fuhr.
    Lili stand auf und ging zu ihr hin. Ihre Finger waren ganz in Schwarz getaucht, dazwischen ein Finger mit roter Farbe. Auf dem Malpapier erkannte Lili einen Körper am Boden liegen. Er schien verletzt zu sein, schien zu schreien, darüber ein Gewitter, aus dem Pfeile
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