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Wehe wenn der Wind weht

Wehe wenn der Wind weht

Titel: Wehe wenn der Wind weht
Autoren: John Saul
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fragte er.
    »Sie ist oben, in ihrem Zimmer«, erwiderte Diana. »Wenn sie etwas braucht, wird sie es mich wissen lassen.« Ein seltsames Grinsen glitt kurz über Dianas gleichmäßige Gesichtszüge, das, wie es Bill schien, mehr ängstlich als amüsiert war. »Sie stößt dann den Stock auf den Boden.«
    Charmant, dachte Bill, der wohl wußte, daß seine Stimme sarkastisch klingen würde, wenn er das Wort laut ausspräche. Dianas Grinsen verflüchtigte sich zu einem schwachen Lächeln.
    »Ich habe mich im Laufe der Jahre daran gewöhnt.« Ein Gedanke durchzuckte sie: »Ich hoffe, es wird Christie nicht erschrecken.«
    Bill entzündete seine Pfeife und wedelte die Rauchwolke beiseite, die aus dem Kopf aufstieg. »Sie wird sich für eine Weile wahrscheinlich vor allem fürchten, Diana. Der Verlust beider Eltern kann in ihrem Alter bei einem Kind sehr viel Schaden anrichten. Du läßt dich möglicherweise auf mehr ein, als du bewältigen kannst. Sie wird wahrscheinlich Alpträume haben, und sie wird ebenso Bedürfnisse haben. Sie wird sehr viel Zuwendung brauchen.«
    »Das wird sie bekommen«, sagte Diana. Sie schwieg einen Augenblick, und als sie wieder sprach, klang eine Kraft in ihrer Stimme mit, die Bill nie zuvor gehört hatte.
    »Ich möchte mich um sie kümmern, Bill«, sagte sie. »Um mich hat man sich lange genug gekümmert. Es wird langsam Zeit, daß ich nicht mehr die folgsame Tochter meiner Mutter bin und selbst ein Kind habe. Und vielleicht kann ich Mutter dazu überreden, daß Esperanza hier häufiger hilft.« Sie hob Christies Kopf von ihrem Schoß und stand auf, und Bill stand ebenfalls auf, da er merkte, daß sie wollte, daß er ging. »Wenn du mich brauchst, ruf mich an«, sagte er. Diana berührte seinen Arm und nickte. »Das werde ich. Aber ich glaube nicht, daß ich etwas brauchen werde. Ich denke, ich werde es gut schaffen.«
    Während sie Bill zur Tür begleitete, tauchte Esperanza aus der Küche auf, nickte ihnen kurz zu und ging dann ins Wohnzimmer. Diana blieb an der Eingangstür stehen, bis Bill fortgefahren war und begab sich dann ebenfalls ins Wohnzimmer. Esperanza kniete vor der Couch und streichelte Christies Stirn.
    »Was tust du da?« fragte Diana. Esperanza schaute mit traurigen braunen Augen zu ihr auf.
    »Sie stirbt«, sagte Esperanza ruhig.
    Diana spürte Panik aufsteigen. »Sie stirbt? Wovon redest du?«
    Die Mexikanerin schüttelte traurig den Kopf. »Nicht jetzt. Aber bald. Die Kinder werden sie rufen und sie wird gehen müssen.«
    »Hör auf, Esperanza«, sagte Diana. »Kein Wort mehr davon.«
    »Aber es ist wahr, Miß Diana. Sie wissen doch, daß es wahr ist, oder?«
    Als ihre Blicke sich trafen und Diana die tiefe Traurigkeit in Esperanzas Gesicht sah, überkam sie ein Frösteln.
    Dasselbe Frösteln, das sie an diesem Morgen gespürt hatte, als der Wind zu wehen begann.

2
     
    aus ihrem vorderzimmer in der ersten Etage des Hauses beobachtete Edna Amber, wie Bill Henry wegfuhr. Sie stützte sich mit steifem Körper auf ihren Stock, den sie mit beiden Händen umklammert hielt, entspannte sich aber, als der alte Rambler-Kombi des Arztes in einer roten Staubwolke verschwand. Ihre Ohren, die im Alter noch ebenso scharf waren wie vor fünfzig Jahren, lauschten nach den Geräuschen des Hauses. Für einen Augenblick herrschte Stille.
    Sie liebte die Stille, denn das bedeutete, daß der Wind nicht wehte. Das, was Edna Amber am meisten an Amberton haßte, war der Wind.
    Amos Amber, der zwanzig Jahre älter als sie gewesen war und nach all der Zeit, die er in Amberton verbracht hatte, an den Wind gewöhnt war, hatte ihr versichert, daß sie sich daran gewöhnen würde. Er hatte ihr auch erzählt, daß der einzige wirklich lästige Wind der Chinook sei, dieser warme Wind, der mehrmals jeden Winter aus den Rockies pfiff, der die Temperaturen ansteigen und den Schnee schmelzen ließ und die Nerven der Menschen zum Zerreißen anspannte. Sie hatte sich nicht daran gewöhnt, sie hatte sich überhaupt nicht daran gewöhnt.
    Statt dessen hatte sie in den Jahren, die vergingen, gelernt, sich gegen den Wind zu stählen. Sie hatte gelernt, den Himmel und das Gebirge im Westen zu beobachten, die Zeichen zu erkennen, die das Kommen des Windes verkündeten. Doch Wachsamkeit war nicht genug gewesen.
    An dem Tag, an dem Diana geboren wurde, hatte der Wind geweht.
    Seit diesem Tage hatte sie den Wind gehaßt, hatte ihn immer mit dem Tod ihres Mannes und der Geburt ihrer Tochter in Verbindung
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