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Wehe wenn der Wind weht

Wehe wenn der Wind weht

Titel: Wehe wenn der Wind weht
Autoren: John Saul
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Leben verbracht hatte. Jede Woche aber kam sie zur Kirche, um für die Kinder zu beten, die, obwohl ihre Gräber auf dem winzigen Kirchhof lagen, woanders ruhten.
    Heute blieb sie nicht lange.
    Heute betete sie nicht für die toten Kinder.
    Heute betete sie für das eine, das noch lebte.
    Christie Lyons schaute aus blicklosen Augen starr geradeaus, und ihre winzige weiße Hand verlor sich in der großen braunen von Esperanza Rodriguez. Tränen flossen über ihre Wangen und ihr Kinn bebte, während sie dagegen ankämpfte, nicht laut zu schluchzen.
    Zuerst hatte sie es nicht geglaubt. Ihr Vater war alles, was sie hatte, und sie war sicher, daß das, was geschehen war, nur ein böser Traum sein konnte, ihr Vater sie gleich aufwecken und ihr sagen würde, daß es nur ein Alptraum gewesen sei.
    Ihr ging die Frage durch den Kopf, ob man sie in ein Waisenhaus stecken würde. Sie nahm an, daß man das wahrscheinlich tun würde. Wo sollte man sonst hingehen, wenn man keine Familie hatte?
    Obwohl sie erst neun Jahre alt war, wußte Christie genau, was geschehen war. Ihr Vater war selbst ins Bergwerk gegangen und war in den Schacht gestürzt. Er hatte ihr viele Male, als er mit ihr zum Bergwerk gegangen war, erzählt, was geschehen könnte, wenn man nicht vorsichtig war. Jetzt war es ihm zugestoßen.
    Und jetzt war sie allein und würde mit Menschen, die sie kaum kannte, irgendwohin gehen.
    Sie schaute aus dem Fenster des Wagens und stellte fest, daß sie zum Bergwerk fuhren. Sollte sie ihren Vater noch einmal sehen? Wollten sie ihn ihr zeigen? Sie hoffte das nicht. Es war schlimm genug, zu wissen, daß er tot war - sie wollte ihn nicht auch noch anschauen müssen.
    Sie schaute in das Gesicht von Esperanza Rodriguez hoch, die sie auf dem Schoß gehalten hatte, während sie ihr erzählt hatte, daß ihr Vater tot sei. Jetzt lächelte Esperanza sie genauso an, wie ihre Mutter gelächelt hatte, als sie noch sehr klein gewesen war.
    Christie erinnerte sich nicht sehr gut an ihre Mutter, aber gerade jetzt, da ihr Vater tot war, wünschte sie sich verzweifelt, daß ihre Mutter zu ihr zurückkommen würde.
    Aus irgendeinem Grunde erinnerte sie sich daran, wie ihre Mutter ihr Haar zu waschen pflegte, wodurch ihre blonden Locken leicht und flaumig wurden. Jetzt hingen sie feucht in ihre Stirn und sie wünschte sich, ihre Mutter wäre da, um sie zu waschen. Aber das würde nie wieder geschehen, denn ihre Mutter war vor fünf Jahren gestorben.
    Sie spürte, daß der Mann, der den Wagen fuhr, gegen ihr Bein drückte und blickte zu ihm auf. Es war Dr. Henry, und obwohl sie ihn nicht sehr gut kannte, wußte sie, daß er ein Freund ihres Vaters war.
    Sie berührte seine Hand und er drückte sie tröstend, bevor er seine Hände wieder auf das Lenkrad legte. Christie Lyons fühlte sich hoffnungslos, starrte aus dem Fenster und sah doch nicht das Haus, dem sie sich näherten.
    Mit zweiundfünfzig war Bill Henry noch immer schlank und irgendwie stattlich. Sein braunes Haar war grau durchsetzt und die von der Coloradosonne gedunkelte Haut hatte die Farbe von Sattelleder. Er wünschte, er wüßte, wie er das kleine Mädchen neben sich trösten könnte, aber sie schien ganz woanders zu sein, und er hatte nicht die geringste Vorstellung, was er ihr sagen könnte. Er war unverheiratet und hatte nie gelernt, wie man mit Kindern sprach. Er hatte sich noch nie um ein Kind kümmern müssen, das soeben den einzigen Elternteil verloren hatte.
    Um nichts Falsches zu sagen, richtete Bill Henry seinen Blick auf die Straße und betrachtete dann aufmerksam das Haus, als er den Wagen auf die Zufahrt zu Edna Ambers Herrensitz lenkte. Das Trösten des Kindes würde er Esperanza oder, in ein paar Minuten, Diana Ambers überlassen.
    Das Haus, das größte in Amberton, erhob sich wuchtig auf einer Höhe, so daß es das Städtchen wie ein Wächter überblickte. Im Gegensatz zu den Häusern in der Stadt war das der Ambers seit Jahren nicht gestrichen worden, und mit seiner abblätternden Farbe und seinen losen Dachschindeln sah es mehr wie eine Ruine aus. Ein paar Espen und ein oder zwei Föhren ragten aus dem verwahrlosten Rasen, der das Wohnhaus umgab. Und die Nebengebäude - eine Scheune und ein Hühnerhaus sowie ein Lagerhaus, das vor vielen Jahren zu einer Garage umgebaut worden war - wirkten ebenso verlassen, wie das Haus selbst. Obwohl Edna Ambers die Stadt noch immer als ihr persönliches Lehen ansah, hatte sie sich an deren Restaurierung nie beteiligt. Ja, sie
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