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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Autoren: Sanbine Czerny
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gestrichen oder Fenster geputzt. Nun sind die Planungen der ersten Tage erledigt, die notwendigen Arbeitsmittel
wie etwa die Anschauungsmaterialien zum ersten Rechnen und Lesen für die Kinder, für die Tafel oder das Klassenzimmer sind gebastelt, Arbeitsblätter für die kommenden Tage und Namenskärtchen für die Tische, die Garderobe, die Fächer, die Hefte und Ordner erstellt, ein Tafelbild mit fröhlich lachenden Tieren und einem „Herzlich Willkommen″ ist gemalt. Nun also soll es losgehen.
    Gedankenversunken habe ich dem Begrüßungslied des Chores zugehört, jetzt werden gleich die Kinder aufgerufen, um mit mir zum ersten Mal in ihr Klassenzimmer zu gehen. Was für eine Mischung! Da ist Chloé, ein zierliches kleines Mädchen. Der Schulranzen scheint doppelt so groß wie sie. Peter haut dem Franz schon beim Raufgehen eins über die Mütze, nimmt Anlauf und schlittert den Boden entlang. Sophie wirkt bereits wie eine Drittklässlerin, so groß ist sie, doch in wenigen Tagen schon wird deutlich werden, dass man sich nicht darüber täuschen sollte, wie jung auch sie noch ist. Carla schaut mich bei der Begrüßung gar nicht an, schüchtern hält sie den Blick auf den Boden geheftet. Bis sie das erste Mal spricht, werden Wochen vergehen, und selbst dann redet sie mit allen Fingern im Mund und so leise, dass ich sie nur verstehe, wenn ich ganz nah neben ihr stehe. Jussuf ist eines meiner fünf Kinder mit Migrationshintergrund, sie kommen aus vier verschiedenen Ländern. Er spricht sehr gut Deutsch, dass er Türke ist, würde man nicht merken. Im Gegensatz zu Jakob, der, obwohl aus einem deutschsprachigen Elternhaus, keinen ganzen Satz grammatikalisch richtig formulieren kann und nur Wortbrocken von sich gibt. Auf dem T-Shirt eines Mädchens steht: ABI 2022. Na, da weiß wohl jemand, was er will … Ob aber Anna selbst überhaupt schon eine Ahnung hat, was „Abi“ bedeutet? Annabell muss während der Begrüßung aufs Klo, und Corinna weint hemmungslos, als die Eltern das Klassenzimmer verlassen. Ja, die Eltern: Da ist Familie Marquart — Mama, Papa, dazu Oma, Opa und noch drei weitere Personen sind am ersten Schultag dabei. Alle mit gepflegtem Äußeren, gut angezogen, höflich, zurückhaltend. Von Josef ist nur die Mutter da, ihre Haare sehen zottelig aus, sie wirkt müde und ausgelaugt. Ihr Mann habe
nicht kommen können, er sei auf Tour mit dem LKW, in einer Woche komme er erst wieder zurück — für eineinhalb Tage, bevor er erneut aufbreche. Sie müsse jetzt leider auch zur Arbeit, heute hätte sie eine Stunde später anfangen dürfen, wegen der Einschulung. Josef solle doch mit dem Hans nach Hause gehen, einen Schlüssel habe sie ihm mitgegeben. Und hier Herr Sifers: Er bugsiert seinen Sohn gleich auf einen Platz in der ersten Reihe. „Wenn er nicht brav ist, dürfen’s ihm gern eine mitgeben“, sagt er beim Rausgehen. Und dann ist da auch noch das Elternpaar Üzgül. Ich glaube nicht, dass sie verstanden haben, was ich gesagt habe, sie scheinen kein Deutsch zu sprechen. Später wird immer die große Tochter — eins von insgesamt sechs Kindern — zum Gespräch mitkommen und wenigstens versuchen zu übersetzen.
    Was für eine bunte Mischung! Wie anders jedes Kind ist. Wie wunderbar, so eine Vielfalt zu haben. Jedes Kind bringt etwas anderes mit ein, jedes Kind hat die ersten Lebensjahre völlig unterschiedlich erlebt. Einige waren im Kindergarten, manche haben Geschwister, zwei haben bis vor Kurzem noch in einem anderen Land gelebt, eines wurde in den letzten Jahren mehrfach wegen eines Herzfehlers operiert, eines ist schwerhörig und versteht mich nur mit Hörhilfe, sodass ich beim Unterrichten ständig ein Mikrofon tragen muss. Vier Kinder haben die Trennung ihrer Eltern miterlebt, drei andere wachsen seit ihrer Geburt ohne Vater auf. Über die Hälfte geht nach der Schule in den Hort oder in die Mittagsbetreuung, daheim von der Mutter empfangen werden immer weniger. Nun, ich bin gespannt. Ich habe siebenundzwanzig ganz unterschiedliche Kinder vor mir, mit etwa vierundfünfzig unterschiedlichen Eltern, alle mit anderen Erwartungen und Vorerfahrungen.
    Am nächsten Tag sind alle Kinder wieder da: Wir begegnen gleich von Anfang an allen Buchstaben. Der Zauberer aus der Geschichte, die ich dazu erzähle, kann daraus Wörter zaubern.
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