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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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derjenigen, die sie meinten, wenn sie »Wir« sagten, eben doch noch sehr beschränkt. Hinter der Landesgrenze war für die meisten Schluss mit dem Wir-Bewusstsein. Bei manchen auch schon im Nachbardorf. Und bei einigen bereits hinter dem eigenen Gartenzaun. Dort lebten dann bereits die anderen. Und die gingen einem auf die Nerven, die betrachtete man als Konkurrenten, als Störenfriede und manchmal sogar als mit allen Mitteln zu bekämpfende Feinde.

Blut ist nicht dicker als Tinte
    Die Soziobiologen würden jetzt argumentieren, dass wir uns wegen unserer egoistischen Gene sowieso nur dann gegenseitig unterstützen, wenn wir möglichst eng miteinander verwandt sind oder wenn es uns für unser Überleben oder für unsere Vermehrung irgendeinen Vorteil bringt, sich um einen anderen Menschen zu kümmern. Deshalb seien es immer die Mitglieder von Familienclans, die besonders eng zusammenhalten. Je intensiver sich dort jeder um den anderen kümmert, ihm in Gefahren beisteht und ihm hilft, seine Kinder großzuziehen, desto größer werde die Chance für seine egoistischen – auch in seinen Blutsverwandten vorhandenen – Gene, sich auszubreiten.
    Die Realität sieht allerdings in sehr vielen Familien etwas anders aus. Und selbst wenn in der Natur gelegentlich zu beobachten ist, dass ein Löwenmännchen die noch von seinem Vorgänger gezeugten Jungen totbeißt, so heißt das noch lange nicht, dass jeder Mann die Kinder umbringt, die seine Frau aus erster Ehe mitgebracht hat. Und was für egoistische Gene sollten gar homosexuelle Partner dazu bewegen, ein ganzes Leben zusammenzuleben und sich gegenseitig auf eine oftmals liebevollere Weise umeinander zu kümmern, als das bei manchen heterosexuellen Paaren der Fall ist? Und was bringt Menschen nicht nur aus verschiedenen Familien, sondern oft sogar aus unterschiedlichsten Kulturen dazu, sich zusammenzuschließen und sich gemeinsam, mit einem starken Wir-Gefühl und Wir-Bewusstsein, für irgendetwas, das ihnen wichtig ist, auf den Weg zu machen?
    Was sie zusammenbringt und zusammenhält, ist weder das dicke verwandtschaftliche Blut noch die dünne Tinte gemeinsam unterschriebener Absichtserklärungen, sondern ein Gefühl.

Not schweißt nur zusammen
    Oft ist es die Not und das Elend, manchmal in Form von Hunger oder Kälte, was Menschen unterschiedlichster Herkunft dazu bringt, sich zu einer Gemeinschaft zusammenzuschließen. Solche Notgemeinschaften halten extrem gut zusammen, und ihre Mitglieder entwickeln ein sehr starkes Wir-Gefühl. Sie leisten bisweilen Übermenschliches, in Kriegs- und Wiederaufbauzeiten beispielsweise oder nach Naturkatastrophen. Hier geht es oftmals um das pure Überleben. Deshalb stellen die Einzelnen, solange die gemeinsame Bedrohung anhält, ihre eigenen Interessen zurück. Neurobiologisch handelt es sich bei dieser Bereitschaft, sich in Notfällen mit anderen zusammenzuschließen, um eine Bewältigungsstrategie zur Überwindung des Gefühls von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Überlebensangst. Der Zusammenschluss ist eine Reaktion, nichts Freiwilliges. Ohne Not hätten die betreffenden Menschen dieses Wir-Gefühl nicht entwickelt, und wenn die Not, die gemeinsame Gefahr, das gegenwärtig herrschende Elend einigermaßen überwunden ist, zerfällt eine solche Gemeinschaft meist rascher, als man das angesichts der Stärke des Zusammenhalts im Zustand der vorher noch herrschenden Not für möglich gehalten hätte. Was eben noch wie ein »Wir-Gefühl« aussah, erweist sich jetzt als äußerst schnell vergänglich. Das Wir-Bewusstsein der Mitglieder solcher Not- und Zwangsgemeinschaften ist in ihrem Gehirn nur in der engen Kopplung mit der erlebten Not verankert. Wenn die Not vorbei ist, lässt es sich nur noch durch die Erinnerung an die gemeinsam überstandene Not vorübergehend wieder wachrufen. An Gedenktagen beispielsweise.

Angst wirkt noch stärker als Not
    Angst ist noch schlimmer für uns Menschen auszuhalten als Not und Elend. Und Angst kann sich in einer menschlichen Gemeinschaft auch dann ausbreiten, wenn dort weder Not noch Elend, ja noch nicht einmal irgendeine existentielle Bedrohung herrscht. Angst vor Inflation beispielsweise oder vor der Schweinepest oder vor Terroristen. Not und Elend sind klar beschreibbare, objektiv vorhandene, sichtbare und messbare Probleme, in die eine Gemeinschaft hineingeraten, von denen sie beherrscht werden kann. Aber Angst ist immer subjektiv, ist immer das Resultat einer subjektiven Bewertung. Und wie ein
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