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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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hineinmeditiert. Dann nutzt man die Netzwerke ein Stockwerk höher, im Frontallappen, um sich selbst zu definieren. Und die sagen dann, wenn sie stark genug sind, dem Temporallappen, dass man eben nicht dort aufhört, wo er es meint. Dass muss man aber ziemlich lange üben. Das kann nicht jeder.
    Was jeder heutzutage sehr gut kann, ist innerhalb seiner jeweiligen Körpergrenze zu bleiben, den Temporallappen also voll aktiv zu halten und sich dennoch dabei als jemand zu erleben, der mal dieser und mal jener sein kann, nach dem Motto »Wer bin ich und wenn ja, wie viele?« Wie das hirntechnisch funktioniert, ist mir noch nicht ganz klar, aber es kann ja auch einfach nur eine Einbildung sein. Es gibt sogar Menschen, die sich einbilden, sie seien ganz jemand anders. Oder ihr Arm oder ihr Bein würde nicht zu ihnen gehören.
    Wenn wir nach diesem kleinen Ausflug in die Unbestimmtheit des »Ichs« wieder zum Ausgang unserer Überlegungen zurückkehren, so stellt sich die Frage, ob und woher wir wissen, wen wir meinen, wenn wir »Wir« sagen. Wo das »Ich« aufhört, ist für jeden einigermaßen klar, der nicht unter Drogen steht oder gerade meditierend transpersonal unterwegs ist oder einen epileptischen Anfall im Temporallappen hat. Aber die andere Frage: »Wer sind wir und wenn ja, wie viele?«, ist jetzt wirklich eine aus neurowissenschaftlicher Perspektive sehr spannende und sehr berechtigte Frage.
    Anders als beim »Ich« fangen wir erst an, uns zu begreifen. Wir haben uns weit voneinander entfernt und dabei manchmal vergessen, dass wir miteinander verbundene, voneinander abhängige und aneinander wachsende Einzelwesen sind. Jetzt finden wir allmählich unsere gemeinsamen Wurzeln wieder und beginnen ganz langsam zu verstehen, dass wir alle mit den gleichen Bedürfnissen, Hoffnungen und Ängsten unterwegs sind, alle Menschen, überall auf der Welt. Das ist neu. Das gab es so, in dieser globalen Weise, noch nie. Das ist der Aufbruch in ein neues Zeitalter. »Wieder einmal …« werden Sie vielleicht jetzt denken und dabei vor Augen haben, wie viele solcher Aufbrüche wir schon hinter uns haben. Aber möglicherweise hat das, was wir gegenwärtig erleben, eine andere Qualität.
    Vielleicht dauert es tatsächlich gar nicht mehr so lange, bis sich kaum noch jemand daran erinnern kann, dass es einmal eine Zeit gab, in der die Menschen, wenn sie »wir« sagten, nicht alle Menschen meinten, die unseren Planeten bevölkern. Sind wir nicht längst schon mittendrin in diesem Prozess der Auflösung historisch gewachsener Grenzen zwischen menschlichen Gemeinschaften? Dann freilich würden wir gegenwärtig den wohl bedeutsamsten Bewusstwerdungsprozess erleben, den Menschen je durchlaufen haben. Er ist zwar schon seit Jahrhunderten an verschiedenen Stellen und auf verschiedenen Ebenen in Gang. Aber noch nie zuvor in einem solch globalen Ausmaß und mit einer solchen Beschleunigung. Diesmal hat auch niemand diesen Prozess des Zusammenwachsens, der Ausbildung dieses neuen Wir-Gefühls und dieses neuen Wir-Bewusstseins gemacht, angeordnet oder organisiert. Er läuft von ganz allein so ab. Man kann ihn wohl an manchen Stellen etwas beschleunigen oder verlangsamen. Aber aufzuhalten ist er nicht. Was hier passiert und was wir hier erleben, ist ein besonders anschauliches Beispiel für einen Selbstorganisationsprozess. Und der findet in unseren Köpfen statt. Weil wir neue Erfahrungen miteinander machen und weil diese neuen lebendigen Beziehungserfahrungen als neuronale und synaptische Beziehungsmuster in unseren Gehirnen verankert werden, bekommen wir auch entsprechend andere Gehirne. Damit können wir das »Wir« nicht nur anders denken, sondern auch anders fühlen.
    Noch für unsere Urgroßeltern war es unvorstellbar, dass sich die Beziehungen allein zwischen den Völkern Europas irgendwann einmal so entwickeln würden, wie das inzwischen geschehen ist. Und noch weniger hätten sie sich vorstellen können, dass sich die Gehirne von Menschen dadurch verändern, dass sie anfangen, einander kennenzulernen, sich auszutauschen, voneinander zu lernen und miteinander Probleme zu lösen. Wenn sie damals »Wir« sagten, dann meinten sie zwar das Gleiche wie wir heute, nämlich dass man sich selbst als Teil einer Gemeinschaft versteht, zu der man sich bekennt, zu der man gern dazugehört, in der man einander so gut wie möglich hilft, Probleme zu lösen und Bedrohungen abzuwenden. Aber damals, zu unserer Urgroßeltern Zeiten, war der Kreis
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