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Was kostet die Welt

Titel: Was kostet die Welt
Autoren: Nagel
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eine Welt, von der ich selten etwas mitbekomme. Wenn ich überhaupt mal um diese Uhrzeit unterwegs bin, dann auf dem Heimweg vom Feiern. Das zählt nicht. Es ist dann zwar hell, aber eigentlich noch Nacht, weil ich besoffen bin und der nächste Tag erst beginnt, wenn man geschlafen hat.
    Jetzt habe ich sogar diesen Rest an Lebensrhythmus verloren. Nach all den verschiedenen Zeitzonen, in denen ich die letzten Monate verbracht habe, ist meine innere Uhr nicht um soundso viele Stunden verschoben - sie ist schlicht und einfach nicht existent.
    Ich weiß nicht mal, welcher Tag heute ist.
    Na gut, das passiert mir sonst auch schon mal. Wenn ich zum Beispiel nachts im Radetzky hinterm Tresen stehe und mich wundere, warum es plötzlich um zwei Uhr nochmal so voll wird, bis ich registriere, dass schon wieder Wochenende oder der nächste Tag ein Feiertag ist.
    Aber jetzt ist alles durcheinander. Ich schlafe, wenn ich schlafen kann, und bin wach, wenn ich nicht schlafen kann. Ich esse selten und rauche ständig. Trinke einen starken, zuckrigen Kaffee nach dem anderen. Ich versuche zu lesen, kann mich aber kaum auf zwei aufeinanderfolgende Sätze konzentrieren. Mein Hirn ist ein poröser Klumpen hinter einer Wand aus Watte, und mein Körper hat sich zu einem
tauben Brei zusammengeschoben. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Wirbelsäule wäre aus hartem Gummi, dann wieder spüre ich meine Füße nicht mehr. Irgendetwas zieht mich zu Boden, als hätte ich einen schweren Stein verschluckt. Und ständig verwechsle ich, was ich gesehen, gelesen oder geträumt habe.
    Ich müsste eigentlich mal meine Sachen waschen gehen. Staubsaugen könnte ich auch mal wieder, und wischen, und die Fenster müssen auch mal geputzt werden, man kann kaum noch durchgucken. Kein Bock. Später vielleicht.
    Es wird ein schöner Tag werden, freundlich und warm. Mir fallen die Augen zu, also schlurfe ich zurück ins Schlafzimmer und lege mich nochmal hin.
    Â 
    Als ich das nächste Mal aufwache, ist es schon fast Mittag. Ich gehe ins Badezimmer, wasche mir mit kaltem Wasser den Schlaf aus den Augen und setze mich auf den Badewannenrand. Dort bleibe ich ein paar Minuten sitzen. Wenn die Balkontür und das Badezimmerfenster offen stehen, entsteht genau an dieser Stelle so ein warmer Luftzug, es hat etwas von Südsee. Ich war noch nie in der Südsee, aber so stelle ich mir das vor - immer eine warme Brise, die einen einlullt. Der Badewannenrand ist im Sommer auf jeden Fall der beste Platz in meiner Wohnung.
    Irgendwann hat sich aber auch das erschöpft. Außerdem knurrt mein Magen, also verlasse ich die Wohnung in Richtung Siebenbürgen.
    Wie in den letzten Tagen staune ich auch heute wieder darüber, wie sehr sich dieses Viertel in meiner Abwesenheit verändert hat. Das Sonnenstudio gegenüber ist nicht mehr da, stattdessen gibt es dort jetzt ein Café, das auf seiner Scheibe mit kostenlosem Internetzugang wirbt.

    Verschwunden ist auch der Second-Hand-Ramschladen, der auf dem Bürgersteig wacklige Stühle, kaputte Spiegel und alte Bongotrommeln feilbot, nicht zu vergessen die zwei Bilderrahmen mit welligen Livefotos von Howard Carpendale, selbst geschossen aus der ersten Reihe vor einer schmucklosen Bühne, obsessiv und überbelichtet. Nun befindet sich an gleicher Stelle ein Fahrradladen, dessen Betreiber mit ihren sorgfältig zerzausten Frisuren aussehen wie Schauspieler. In der schmierigen Videothek daneben gibt es neuerdings eine kleine Ecke, in der die Filme nach Regisseuren geordnet sind, und wenige Hundert Meter weiter die Straße runter hat die erste linke Kneipe des Viertels eröffnet. Wo vor meinem Abflug noch schnurrbärtige alte Türken in grellem Neonlicht Karten gekloppt und um die Wette geraucht haben, wird nun in schummrigem Kerzenschein bei einem Glas Merlot die Gentrifizierung des Kiezes diskutiert. Der Laden heißt VeränderBar. Abends gehen dort Typen ein und aus, deren Frisuren Protest signalisieren und auf deren Klamotten meistens irgendwo irgendwas mit »Capitalism«, »Fascism« oder »Sexism« steht. Antifa rein, Türken raus.
    Â 
    Im Café Siebenbürgen machen sie einen ganz hervorragenden Espresso, und es gibt Frühstück bis siebzehn Uhr. Vor einem halben Jahr stand diese ehemalige Eckkneipe noch leer. »Zu vermieten« konnte man wochenlang in Krakelschrift auf einer Pommesschale lesen, die mit Tesafilm ins
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