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Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Titel: Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
Autoren: Louise Doughty
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Metalltürklinke ist nicht kalt und fest, wie sie sein sollte, sondern weich, porös. Während wir durch den Flur gehen, habe ich den deutlichen Eindruck, dass sich meine neue Schwerelosigkeit bis in mein Haar fortsetzt, das deshalb meinen Kopf umschweben muss – wie sonst ließe sich die Blöße meiner Kopfhaut erklären?
    Trotz alledem muss ich doch noch etwas Körperliches an mir haben – ich setze einen Fuß vor den anderen und finde mich, nachdem ich erst um zwei Ecken gebogen bin, vor einem Zimmer wieder. Die Polizeibeamten stehen zu beiden Seiten von mir, und die Polizistin erklärt mir etwas. Ganz am Rande meines Gesichtsfelds sehe ich, wie sich ihre Lippen bewegen. Sie sagt mir, dass ich das Laken nicht anheben darf. Ich werde Bettys Gesicht sehen können, darf aber das Laken nicht hochheben. Die Lautstärke ihrer Stimme wird auf- und abgedreht. Ich schnappe einen ganzen Satz auf: »Sie können warten, bis ein weiterer Angehöriger eintrifft.« Heftig schüttele ich den Kopf. Sie öffnet die Tür.
    Betty, meine Betty, liegt auf dem Rücken auf dem hohen Bett. Ihre Arme stecken unter dem Laken, das ordentlich über ihrer Brust umgeschlagen und hochgezogen wurde. Ihre Augen sind geschlossen. Jemand hat ihr Haar gekämmt. Es liegt sorgfältig auf dem Kissen ausgebreitet, ihr langes, feines Haar. Ihr Gesicht ist friedlich, nur gezeichnet von einer langen Schürfwunde auf der Stirn, die von Steinchen und Erde gesäubert wurde. Allerdings sieht sie nicht so aus, als schliefe sie; nein, das nicht. Vom Schlaf wird ihr Gesicht weich und sanft – wenn sie zu Hause verschläft und ich sie wecken muss, denke ich immer, mein Baby ; aber jetzt fehlt dieses Weiche, Sanfte. Die Ewigkeit dieser Ruhe steht ihr unverkennbar ins Gesicht geschrieben. Ihre Züge bergen jeden einzelnen Tag ihres neunjährigen Lebens, jede Erfahrung, jede Hoffnung oder Verärgerung. Sie ist ganz und gar sie selbst.
    Ich nähere mich dem Bett. Mein Atem geht stoßweise. Ich merke, dass die Polizistin mich festhält, auf meinen Zusammenbruch gefasst. »Laura … ist das Ihre Tochter, Betty Needham?«
    Ich nicke, und das Nicken setzt frei, was seit Stunden hinter dem Damm meines Gesichts aufgestaut war – eine Tränenflut. Der Wendepunkt ist gekommen. Endlich sind mein Bewusstsein und mein Körper im Einklang miteinander. Ich strecke die Hand aus, um Betty zu berühren. Die Polizistin hält mich nicht zurück. Ich halte meine Hand so gewölbt, dass ich ihr mit den Fingerrücken über die Schläfe streichen kann, wie immer, wenn sie sich sehr wehgetan hat oder sich sehr aufregt. »Betty … Betty …«, sage ich, und ich schluchze und schluchze, während ich ihre Schläfe streichle, ganz, ganz sanft, und meine Knie sacken ein, und die Polizistin stützt mich, und mein lautes Weinen erfüllt den Raum, die Luft, die ganze Welt dahinter.
    Sie lassen mich dableiben. Dafür bin ich dankbar. Sie bringen einen Stuhl – die anderen Leute, die hereingekommen sind, ohne dass ich es bemerkt habe –, einen von den grauen Plastikstühlen aus dem Wartezimmer, und stellen ihn neben Bettys Bett, damit ich bei ihr sitzen und meine Hand behutsam auf die Decke legen kann, während ich auf die Ankunft ihres Vaters warte. Einige Minuten lassen sie mich sogar allein. Eine Schwesternhelferin kommt mit einer Tasse Tee, die sie, meinen Blick meidend, geräuschlos auf das Schränkchen neben mir stellt.
    Ich bin so dankbar für diese wenigen Augenblicke. Davids Ankunft wird der Anfang von allem sein, was danach noch kommt: Rees, unsere Freunde und Verwandten, die Schule. Dann wird der Rest meines Lebens beginnen müssen. Ganz kurz versuche ich, über den Felsrand in jenes Leben zu spähen, das Leben, das kommen wird, doch davon wird mir schwindlig – buchstäblich, kleine Pünktchen tanzen vor meinen Augen. Um das auszubalancieren und mich zu fangen, spule ich im Kopf kurz eine alternative Version dessen ab, was mir in der letzten Stunde zugestoßen ist. Die Polizisten sind zu mir nach Hause gekommen, um mich ins Krankenhaus zu bringen. Als ich hier ankam, lag Betty mit blassem Gesicht auf den frischen Laken, an einen Tropf angeschlossen. Der Arzt hat mir ohne Beschönigungen erklärt, wie schwer ihre Verletzungen sind. Er hat es mir überlassen, ihr das in Begriffe zu übersetzen, die sie verstehen kann, deshalb habe ich ihr gesagt, sie werde ihre Stepptanzprüfung in diesem Herbst wahrscheinlich nicht ablegen können. »Tut mir leid, Schätzchen«, habe ich gesagt,
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