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Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love

Titel: Was du liebst, gehört dir nicht - Doughty, L: Was du liebst, gehört dir nicht - Whatever You Love
Autoren: Louise Doughty
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schwarzes Haar und sind blass, wie die Wanderarbeiter, die wir an der Strandpromenade gesehen haben. Wahrscheinlich kommen sie aus dem Wohnwagencamp oben auf der Steilküste – noch ein Konfliktherd der Gemeinde. In ihrer Mitte hält sich ein etwa siebenjähriger Junge ein Verbandsknäuel gegen die Stirn. Es ist blutgetränkt, und über seine Wange sickert Blut hinab. Während wir rasch vorbeigehen, wirft uns das Grüppchen vorwurfsvolle Blicke zu, als drängelten wir uns vor. Am Empfangstresen redet die diensthabende Krankenschwester leise mit einem Arzt und zeigt mit nach oben gekehrter Handfläche auf die Gruppe.
    Wir gehen durch die Flügeltür links einen elfenbeinweiß gestrichenen Flur entlang, in dem Gemälde einheimischer Künstler hängen, sehr schlechte, blaue Meerlandschaften mit fröhlich auf den Wellen hüpfenden Booten und am Himmel kreisenden Möwen. So wie auf diesen Bildern hat das Meer hier noch nie ausgesehen. Nach der nächsten Flügeltür blättert die falsche Fröhlichkeit ab, und düstere braune Wände kommen zum Vorschein, die uns zum Verwaltungstrakt führen. Wir gehen auf Umwegen zu dem unbekannten Ort, an dem Betty ist.
    Ich hatte ja keine Ahnung, wie lang dieser Flur ist. Mir kommt es vor, als ginge ich ihn seit Tagen entlang, wobei mir Dinge auffallen, die ich normalerweise nie bemerken würde. Wir passieren Bürotüren, allesamt geschlossen, nummeriert, mit Namensschildern von Leuten, die ich kenne, aber die Leute sind nicht hier, während Betty, die zu Hause sein sollte, hier ist , irgendwo in diesem endlosen Labyrinth, das verwirrend und vertraut ist wie die Landschaft in einem Traum. Das muss es sein. Das würde alles erklären: die Möwen auf den Bildern, die Gesichter an der Strandpromenade, das Buch Hiob. Ich bin nicht hier. Ich schlafe, eine feuchte Decke wickelt sich um meine Beine, während ich mich unruhig hin- und herwälze. Schließlich gelangen wir an ein Sprechzimmer. Die Polizistin klopft leise an und geht hinein, ohne die Antwort abzuwarten. Der Polizist bedeutet mir, ihnen zu folgen.
    Hinter dem Tisch sitzt ein Arzt, den ich nicht kenne. Dafür bin ich dankbar. Er ist ein älterer Mann, kurz vor dem Ruhestand, nehme ich an, mit schmal eingefassten Brillengläsern. Er schreibt einen Bericht. Als wir hereinkommen, schließt er die Akte und steht auf. »Mrs. Needham, bitte …« Er weist auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Es tut mir sehr leid«, sagt er und schaut zu Boden; ihm ist augenscheinlich nicht wohl in seiner Haut bei dieser Aufgabe, die ihm regelrecht peinlich ist. Dann setzt er sich wieder, schlägt die Akte auf, wirft einen Blick darauf, räuspert sich. »Na dann«, beginnt er in einem Tonfall, aus dem hervorgeht, dass er eine Liste abarbeitet, »ähm, multiple innere Verletzungen …«
    Das Zimmer dreht sich wie wild. »Oh!«, rufe ich aus und beuge mich auf meinem Stuhl vor. Während ich zusammensacke, schließe ich die Augen, sehe also seine Reaktion nicht. Nach einmal tief Luftholen zwinge ich mich aufzuschauen.
    Der Arzt starrt mich an. Die Polizistin tritt vor und legt mir beschützend die Hand auf die Schulter, versucht mich zu stützen. Ich überwinde mich und setze mich aufrecht hin. »Ich will …«, sage ich und schnappe nach Luft, damit meine Stimme klar und deutlich klingt, »… ich will sie sehen.«
    Nach einem Blick auf die Polizistin steht der Arzt von seinem Schreibtisch auf. »Natürlich. Entschuldigen Sie. Ich muss nur – ich gehe eben nachsehen.«
    Er schließt die Tür hinter sich. Ein langes Schweigen kommt auf. Von draußen sind Wind und Regen zu hören. Die Polizistin fragt sanft: »Kann ich Ihnen etwas bringen, Laura?« Das ist ihre Art, sich für die Schroffheit des Arztes zu entschuldigen. Ich schüttele den Kopf.
    Der Arzt kommt ins Sprechzimmer zurück und schließt die Tür hinter sich. Seine Verlegenheit ist mit Händen zu greifen; es hat ihm die Sprache verschlagen. Er sieht die Polizistin an und nickt. Sie beugt sich zu mir vor. »Wir können jetzt zu ihr.«
    Ich stehe vom Stuhl auf und habe das Gefühl, mich immer weiter zu erheben, hoch über das hinaus, was mir zustößt, durch die Lüfte aufzusteigen, weit über das Krankenhaus hinauf. Selbst als wir kehrtmachen, um das Zimmer zu verlassen, als ich vorangehe, ist mir jegliches Körpergefühl abhandengekommen, und mir ist, als schwebte ich hoch über mir. Ich spüre das Linoleum unter meinen Füßen nicht, habe aber das Gefühl, dass es schwammig ist. Die
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