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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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Das experimentelle Werk im Stil von Ebbinghaus schliff schon bald ein Bett aus, das nach und nach mehr Seitenströme zu sich zog und schließlich zum Hauptstrom wurde. Versuche mit dem Gedächtnis bekamen eine Gestalt, für die ein Foto Aus der Werkstatt der experimentellen Psychologie und Pädagogik (1913) repräsentativ ist. Es wurde in irgendeinem deutschen Labor aufgenommen, Ort und Datum wurden nicht verzeichnet. Einen großen Unterschied hätte das auch nicht gemacht, inzwischen lagen die Versuchsprotokolle so fest, daß nicht nur die Apparatur und der Versuchsaufbau, sondern auch die Labors eine gewisse Austauschbarkeit bekommen hatten. Ebbinghaus hatte seine Experimente noch selbst zu Hause am Schreibtisch durchgeführt, mit nicht mehr Hilfsmitteln als einer Reihe von Silbenkärtchen, einer Schnur mit Knöpfen und einer Taschenuhr. Seine Nachfolger führten ihre Experimente in Labors mit verfeinerter Meßapparatur durch.
    Die beiden Herren und das Mädchen auf dem Foto zeigen, daß die Rollen des Versuchsleiters und der Versuchsperson, bei Ebbinghaus noch vereint, nun getrennt sind. Es ist das Gedächtnis des Mädchens, das an die Arbeit gesetzt wird, die Versuchsleiter reservieren ihre Aufmerksamkeit für die Bedienung der Apparatur. Das Gedächtnisexperiment hat eine rigorose Mechanisierung erfahren. Für das Angebot des zu lernenden Materials sind allerhand >Mnemometer< und >Gedächtnisapparate< erfunden worden, einer davon steht vor dem Mädchen auf dem Tisch. In dem Kästchen befindet sich eine Mechanik, die dafür sorgt, daß ihm die Stimuli in standardisierten Intervallen angeboten werden. Das Mädchen ist Teil eines geschlossenen Apparatekreises. In dem Moment, in dem das Reizwort erscheint, beginnt das Chronoskop unter der Glasglocke links von ihm zu laufen. Es stoppt, sobald es auf das Wort reagiert: eine empfindliche Membran, die vor ihm steht, fängt die Schwingungen seiner Stimme auf und schaltet das Chronoskop ab. Das Chronoskop war die Ikone der Präzision in der Psychologie: das Instrument legte die Reaktionszeit in Millisekunden genau fest. Auf dem Wandbild ist ein Schema der Schaltungen in einem Hipp-Chronoskop zu sehen.
    Dreißig Jahre nach Ebbinghausens Gemurmel in einem Berliner Studierzimmer hatte sich alles verändert: der Ort des Experiments, die Aufspaltung von Versuchsleiter und Versuchsperson, die fortschrittliche Apparatur und die Standardisierung des Experiments. Daß das Experiment mit dem Mädchen dennoch unmittelbar als ein Experiment in der Tradition von Ebbinghaus anzusiedeln ist, hat mit dem zu tun, was es sich merken sollte: noch immer jenen einen Vokal zwischen zwei Konsonanten, den Reiz ohne Bedeutung: >kad<.
    Eklipse
    Was in der Zwischenzeit aus Galtons Assoziationsexperimenten wurde, ist schnell erzählt: nichts. Seine Forschung verschwand aus dem Blickfeld infolge des Aufkommens einer Gedächtnispsychologie, die in der Weiterführung von Ebbinghausens Werk lag. Das galt sowohl für die Methoden und Techniken als auch logischerweise für die Themen: jeder Zimmermann weiß, daß das Werkzeug in hohem Maße bestimmt, was man damit tun kann. Es ist eine Orientierung, die aus der Gedächtnispsychologie eine grundlegende Wissenschaft gemacht hat. In jedem Handbuch kann man feststellen, daß man im vergangenen Jahrhundert viel Wissen über Lernen und Behalten, Erinnern und Vergessen, Wiedererkennen und Reproduzieren gesammelt hat. Noch immer betreibt man Forschung mit Silben, aber derartige Studien sind jetzt Teil eines abwechslungsreichen Repertoires von Techniken, zugeschnitten auf die unterschiedlichsten Arten von Information. Was blieb, war die Vorliebe für Fragen, die sich in quantitativem Sinn präzise beantworten lassen. Und damit zusammenhängend: der Versuch, das zu verwalten, was in unser Gedächtnis hineingeht. Die Möglichkeit eines zahlenmäßigen Vergleichs zwischen >input< und >output<, wie das gelernte und reproduzierte Material inzwischen genannt wurde, blieb eine selbstverständliche Forderung an die Gedächtnisforschung.
    Der Preis, den man dafür zahlte, war, daß Themen, die für Experiment und Messung nur schwer zugänglich waren, aus den Forschungsprogrammen gestrichen wurden, manchmal vorläufig, manchmal endgültig. Gerade für die Erforschung des autobiographischen Gedächtnisses hatte dies einschneidende Folgen. Die persönlichen Erlebnisse eines Menschen sind nun einmal nicht erst irgendwo in einem Heft notiert worden, und sie sind auch nicht so
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