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Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung

Titel: Warum das Leben schneller vergeht, wenn man älter wird-Von den Rätseln unserer Erinnerung
Autoren: Douwe Draaisma
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nachgewiesen, daß man flüchtige Assoziationen zur statistischen Bearbeitung festlegen kann, daß man sie datieren, sortieren, determinieren kann. Es war ihm gelungen, das Halbdunkel seines Bewußtseins zu durchdringen. Was er dort vorgefunden hatte, eignete sich nicht immer zur Veröffentlichung. All jene Assoziationen, schrieb er, »legen die Fundamente der Gedanken einer Person mit so wunderbarer Deutlichkeit bloß, sie enthüllen so lebendig und wahrheitsgetreu die geistige Anatomie eines Menschen, daß er sie wahrscheinlich lieber für sich behält.« Seine Experimente hinterließen bei ihm den Eindruck eines Kellerbodens, den man für Reparaturen an den Sanitäranlagen aufgerissen hatte: erst dann liegen die Rohre, Kabel und Leitungen frei, die während der ganzen Zeit dem Komfort der Bewohner unsichtbar gedient haben.
    Francis Galton hätte mit dieser Studie Begründer einer blühenden Psychologie des autobiographischen Gedächtnisses werden können. Er zeigte als erster den >Reminiszenzeffekt< auf, das Phänomen, daß die Assoziationen von Menschen um die sechzig -Galton war 57 - relativ oft in die Jugend zurückgehen. Er war auch der erste, der eine Technik entworfen hatte, um sich zu Abteilen unseres Gedächtnisses Zugang zu verschaffen, die man niemals zuvor einer systematischen Erforschung unterworfen hatte. Dennoch wurden seine Experimente nicht nennenswert fortgeführt. Zur selben Zeit, um 1879, war nämlich noch jemand anders mit Gedächtnisexperimenten zugange, auch mit Wörterlisten und einer Uhr, ein Deutscher.
    Hermann Ebbinghaus (1850-1909) hatte in Philosophie promoviert. Nach einem Aufenthalt als Hauslehrer in England und Frankreich wurde er 1878 nach Berlin eingeladen, um dort am Preußischen Hof Prinz Waldemar zu unterrichten. Der Unterricht fand ein abruptes Ende, als Waldemar 1879 an Diphtherie starb. Ebbinghaus beschloß, den Versuch zu wagen, als Privatdozent in der Philosophie zugelassen zu werden. Die Habilitationsschrift, die hierfür verlangt wurde, widmete er einer Reihe von Experimenten, mit der er schon am Hof angefangen hatte. Wie Galton -aber unabhängig von ihm - studierte er die Funktion seines eigenen Gedächtnisses.
    Ebbinghaus hatte seine eigenen Stimuli entworfen. Er fügte jeweils einen Vokal zwischen zwei Konsonanten und erhielt so einen Vorrat von 2.300 Silben wie >nol<, >bif< und >par<. Diese Silben
    - von Ebbinghaus >sinnlose Silben« genannt, obwohl manche Silben tatsächlich als Worte existierten - schrieb er auf Kärtchen. Ein durchschnittlicher Versuch verlief folgendermaßen: Zu einem festen Zeitpunkt am Tag legte Ebbinghaus seine Uhr auf den Tisch und nahm sich den Kartenstapel. Daraus zog er dann nach dem Zufallsprinzip eine bestimmte Anzahl und übertrug die Silben in ein Heft. In der Hand hielt er eine Schnur mit Holzknöpfen. Jeder zehnte von ihnen war schwarz. Anschließend las er sich die Silbenreihe in hohem Tempo - zwei, drei Silben pro Sekunde - selbst vor. Das tat er so lange, bis er die Reihe auswendig konnte. Danach schaute er sich seine Holzknopfschnur an und notierte, wie oft er die Reihe hatte lesen müssen. Zu einem späteren Zeitpunkt - und der konnte zwischen zwanzig Minuten bis zu sechs Tagen oder sogar einem ganzen Monat schwanken - wiederholte er den Versuch mit derselben Reihe. Indem er die Anzahl der Wiederholungen für das Wiederlernen von denen für das Lernen abzog, erhielt Ebbinghaus ein Maß für das, was er >Arbeitsersparnis< nannte: für das erneute Lernen braucht man weniger Wiederholungen als für das Lernen, aber wieviel weniger, hängt von der Zeit ab, die zwischen dem Lernen und dem Wiederholen des Gelernten liegt.
    Mit dieser Methode fand Ebbinghaus über einen Umweg eine Möglichkeit zur Quantifizierung des Gedächtnisses. Man kann nicht direkt messen, was man vergessen hat, aber man kann sehr wohl messen, wie viele Wiederholungen notwendig sind, um das, was man vergessen hat, erneut zu lernen. So konnte er die Erkenntnis, daß man um so mehr vergißt, je mehr Zeit seit dem Erlernen verstrichen ist, zu einer Kurve präzisieren, die in den ersten zwanzig Minuten schnell abfällt, nach einer Stunde etwas weniger steil verläuft und nach einem Tag in eine allmähliche, fast flache Abnahme übergeht - die >Vergessenskurve von Ebbinghaus«. Eine weitere Feststellung war, daß die Anzahl der Wiederholungen mit der Anzahl der Silben unverhältnismäßig zunimmt. Bei bis zu sieben Silben lernte Ebbinghaus die Reihe in einem Mal, aber
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