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Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Walled Orchard 01: Der Ziegenchor

Titel: Walled Orchard 01: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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sie stammte aus einer relativ unbedeutenden Politikerfamilie und war dazu erzogen worden, Satiriker zu verachten.
    Mit neun Jahren fing ich dann an, den Ziegen und Dornbäumen kindliche Pambasen und Stichomythien vorzusingen. Da ich die Kunst des Schreibens auf Wachstafeln oder ägyptischem Papyros zu jener Zeit noch nicht erlernt hatte, behielt ich die Zeilen, wenn sie erst einmal fertig waren, einfach im Kopf. Schließlich müssen Schauspieler ihre Rollen ja auch auswendig lernen, und wenn sich nicht einmal der Autor den Text seines eigenen Stücks merken kann, was sollte er dann schon von anderen erwarten dürfen?
    Als ich elf Jahre alt war, hatte ich mich bereits an das Verfassen von Chortexten gemacht – was mir eigentlich 20
    schon immer leichter gefallen ist, als in Jamben gefaßte Dialoge zu dichten – und konnte bald meine erste Komödie fertigstellen, auf die ich geradezu absurd stolz war. Nach ihrem Chor und Premierenpublikum trug sie den Titel Die Ziegen und erhielt auf den Panhymettischen Festspielen von dem alten weißen Bock, den ich zum Vorsitzenden der zwölfköpfigen Jury gekürt hatte, den ersten Preis. Da in jenem Jahr lediglich mein Stück aufgeführt wurde, blieb dem Vorsitzenden diesbezüglich vermutlich keine andere Wahl, und kurz nach der Preisverleihung stieß er mich prompt äußerst schmerzhaft mit den Hörnern, als ich versuchte, ihm die widerspenstige Stirnlocke zu glätten.
    Auf diese Weise erteilte er mir rechtzeitig eine nachhaltige und unbezahlbare Lektion über die Wankelmütigkeit des Publikums.
    Die als Ziegen verkleideten Chormitglieder verkörperten die Bürger Athens, und ihr Ziegenhirte stellte den glorreichen Perikles dar, den großen Staatsmann, der damals an der Spitze der athenischen Demokratie stand.
    Keine Komödie, die diese Bezeichnung verdiente, war ohne einen beißenden und schamlosen Seitenhieb auf Perikles wirklich vollständig, und auch Die Ziegen bildeten da keine Ausnahme: Eines schönen Tages läßt der Ziegenhirte seine Herde auf dem üppigen Hochland des Reichs weiden, als ihn plötzlich eine Räuberbande aus Sparta überfällt und ihm die Käselaiber stiehlt, die er sich seinerseits unrechtmäßig angeeignet hat, und zwar vom Geld seines eigenen Herrn und Meisters, der Staatskasse nämlich. Zum Glück kann ich mittlerweile behaupten, Allegorien ein ganzes Stück besser zu beherrschen, doch 21
    damals hielt ich mein Gleichnis für den Gipfel des Scharfsinns.
    Durch diesen feigen Anschlag erzürnt, beschließt Perikles, Sparta den Krieg zu erklären und rings um das Reich einen Schutzwall aus dreirudrigen Kriegsschiffen zu errichten, um die Spartaner am Eindringen und die Ziegen an der Flucht zu hindern. In meiner Komödie gibt es eine nette Szene über die Ziegenversammlung, in der Perikles seine kriegerischen Absichten begründet. Seine Rede, der Agon oder Hauptteil des Stücks, war eine Parodie auf fast sämtliche Textpassagen einer Rede des großen Staatsmanns, an die ich mich noch erinnern konnte und die fast jeder Einwohner Pallenes auswendig gelernt hatte, während sich die Gegenrede des Tragosophos (die ›weise Ziege‹) stark an die Erwiderung eines seiner Gegner anlehnte. Die Komödie enthält auch eine gelungene Chorszene, in der die Ziege aus Poteidaia bei einem Fluchtversuch den Schutzwall zu durchbrechen versucht, jedoch von Perikles und den übrigen Ziegen geopfert und verspeist wird (diese Szene habe ich natürlich für meinen Vater geschrieben). Noch heute könnte ich Ihnen die Rede aus dem Prolog – die erste, die ich jemals geschrieben habe
    – Wort für Wort vortragen (›Dieser Ziegenhirte ist aus andrem Holz, wir dürfen ihn nicht verkennen, denn er hat womöglich vor, sich selbst zum König zu ernennend‹).
    Aber ich habe inzwischen als Komödiendichter einen gewissen Ruf erworben, und derlei billige Reime liegen längst unter meinem Niveau.
    Nun folgte der Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs gegen Sparta, und mein idyllisches, durch Poesie und 22
    Ziegenhüten geprägtes Leben wurde immer wieder durch die alljährliche Invasion der Spartaner unterbrochen, was zu zwei unerfreulichen Begleiterscheinungen führte: nämlich zur Notwendigkeit, so lange in Athen zu leben, wie sich die Spartaner in der Nähe herumtrieben, und zum Besuch der Schule, um in Redekunst und homerischer Dichtung unterrichtet zu werden. Alles in allem empfand ich Homer als eine größere Belästigung als die Spartaner, denn in der Stadt lebten etliche Männer,
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