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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau
Autoren: Henning Mankell
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Auszeichnungen erhalten. Außerdem hatte er seine Gedichte auf eigene Kosten drucken lassen. Die erste Gedichtsammlung, die er zusammengestellt und an die großen Verlage in Stockholm geschickt hatte, war nach einiger Zeit mit kurzgefaßten Ablehnungen auf Formbriefen zurückgekommen. Ein Verlagslektor hatte sich jedoch die Mühe gemacht, einen persönlichen Kommentar abzugeben, und geschrieben, kein Mensch sei in der Lage, Gedichte zu lesen, die von nichts anderem handelten als von Vögeln.
Das Seelenleben der Bachstelze interessiert nicht
, hatte er geschrieben.
    |23| Danach gab er es auf, sich an Verlage zu wenden. Er hatte den Druck selbst bezahlt. Einfache Umschläge, schwarze Schrift auf weißem Grund. Nichts Aufwendiges. Es waren die Worte zwischen den Umschlagdeckeln, die etwas bedeuteten. Trotz allem hatten viele Menschen im Lauf der Jahre seine Gedichte gelesen. Viele hatten sich auch anerkennend geäußert.
    Und jetzt hatte er ein neues Gedicht geschrieben. Über den Mittelspecht, den schönen Vogel, der in Schweden nicht mehr zu sehen war.
    Der Vogeldichter, dachte er.
    Fast alles, was ich geschrieben habe, handelt von Vögeln. Von Flügelschlägen, vom Rauschen in der Nacht, von einsamen Lockrufen irgendwo in der Ferne. In der Welt der Vögel habe ich die tiefsten Geheimnisse des Lebens erahnt.
    Er trat wieder an den Schreibtisch und nahm das Blatt in die Hand. Die letzte Strophe war schließlich doch gelungen. Er ließ das Blatt wieder auf die Tischplatte fallen. Ein Schmerz fuhr ihm in den Rücken, als er durch den großen Raum ging. Wurde er krank? Jeden Tag suchte er nach Anzeichen dafür, daß sein Körper anfing, ihn im Stich zu lassen. Sein ganzes Leben war er gut trainiert gewesen. Er hatte nie geraucht, mäßig gegessen und getrunken. Das hatte ihm eine gute Gesundheit erhalten. Aber er war bald achtzig. Das Ende der ihm zugemessenen Zeit kam immer näher. Er ging in die Küche und schenkte sich eine Tasse Kaffee aus dem Glaskolben der Kaffeemaschine ein, die stets in Betrieb war. Das fertige Gedicht erfüllte ihn mit Wehmut und mit Freude.
    Der Herbst des Alters
, dachte er.
Ein passender Titel. Alles, was ich schreibe, kann das letzte sein. Und es ist September. Es ist Herbst. Im Kalender wie in meinem Leben.
    Er nahm die Kaffeetasse mit ins Wohnzimmer. Vorsichtig setzte er sich in einen der braunen Ledersessel, die ihn seit über vierzig Jahren begleiteten. Er hatte sie gekauft, um seinen Triumph zu feiern, als er die Agentur für Volkswagen in Südschweden bekam. Auf einem kleinen Tisch neben der Armlehne stand ein Foto von Werner, dem Schäferhund, den er am meisten von all den Hunden vermißte, die ihn durchs Leben begleitet hatten. Alt zu werden hieß, einsam zu werden. Menschen, die einem das Leben |24| erfüllt hatten, starben. Am Schluß verschwanden auch die Hunde zwischen den Schatten. Bald gab es nur noch ihn selbst. An einem bestimmten Punkt im Leben waren alle Menschen einsam in der Welt. Über diesen Gedanken hatte er vor kurzem ein Gedicht schreiben wollen. Aber es war ihm nicht gelungen. Vielleicht sollte er es jetzt noch einmal versuchen, nachdem er mit dem Klagegesang über den Mittelspecht fertig war? Aber er konnte nur über Vögel schreiben. Nicht über Menschen. Vögel konnte man verstehen. Menschen waren oft unbegreiflich. Hatte er jemals sich selbst verstanden? Gedichte zu schreiben über etwas, das er nicht verstand, hieß, in verbotenes Gelände einzudringen.
    Er schloß die Augen und erinnerte sich plötzlich an die Zehntausend-Kronen-Frage in den späten Fünfzigern, oder vielleicht war es in den frühen Sechzigern. Damals war das Fernsehen noch schwarzweiß. Ein junger Mann hatte sich für das Spezialgebiet Vögel gemeldet. Ein junger Mann, der schielte und naß gekämmtes Haar hatte. Er hatte alle Fragen beantwortet und seinen Scheck über die damals ungeheure Summe von zehntausend Kronen bekommen.
    Er selbst hatte nicht im Fernsehstudio gesessen, in dem geräuschisolierten Käfig mit Kopfhörern auf den Ohren. Er hatte sich genau hier in diesem Ledersessel befunden. Aber auch er hatte alle Antworten gewußt. Er hätte wahrscheinlich nicht einmal um zusätzliche Bedenkzeit bitten müssen. Aber 10   000   Kronen hatte er nicht bekommen. Niemand wußte von seinen Kenntnissen über Vögel. Er hatte weiter seine Gedichte geschrieben.
    Er fuhr aus seiner Träumerei hoch. Ein Geräusch hatte ihn aufgeschreckt. Er horchte ins dunkle Zimmer. Bewegte sich jemand
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