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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau
Autoren: Henning Mankell
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breitete die Zettel vor sich auf dem Tisch aus. Sie wußte, es waren genau dreiundvierzig Stück. Auf einem einzigen war ein schwarzes Kreuz. Dann begann sie, die Zettel auseinanderzufalten, einen nach dem anderen.
    Das Kreuz war auf dem siebenundzwanzigsten Zettel. Sie schlug das Journal auf und folgte der Reihe von Namen, bis sie die siebenundzwanzigste Spalte erreichte. Sie betrachtete den Namen, den sie selbst geschrieben hatte, und sah langsam ein Gesicht hervortreten. Dann schlug sie das Buch zu und legte die Zettel in die Schachtel zurück.
    Ihre Mutter war tot.
    Es gab kein Zweifeln mehr für sie. Auch kein Zurück. Sie würde sich selbst ein Jahr geben. Um die Trauer zu bewältigen, um alle Vorbereitungen zu treffen. Aber länger nicht. Noch einmal ging sie hinaus auf den Balkon. Eine Regenfront zog vom Meer heran.
    Kurz nach sieben Uhr ging sie ins Bett.
    Es war der Morgen des 20.   August 1993.

|19| Schonen
    21.   September–11.   Oktober 1994

|21| 1
    Kurz nach zehn Uhr am Abend war er endlich fertig mit dem Gedicht.
    Die letzten Strophen hatten ihn viel Mühe und Zeit gekostet. Er hatte nach einem schwermütigen Ausdruck gesucht, der zugleich schön sein sollte. Mehrere Blätter mit abgebrochenen Versuchen hatte er in den Papierkorb geworfen. Zweimal hätte er beinahe aufgegeben. Aber jetzt lag das Gedicht vor ihm auf dem Tisch. Sein Klagegesang über den Mittelspecht, der im Begriff war, aus Schweden zu verschwinden: seit den frühen achtziger Jahren war er nicht mehr gesichtet worden. Ein weiterer Vogel, der allmählich von den Menschen verdrängt wurde.
    Er erhob sich vom Schreibtisch und streckte den Rücken. Von Jahr zu Jahr fiel es ihm schwerer, längere Zeit über seine Schreibereien gebeugt zu sitzen.
    Ein alter Mann wie ich sollte keine Gedichte mehr schreiben
, dachte er.
Die Gedanken eines Achtundsiebzigjährigen haben kaum noch Wert für andere, nur noch für ihn selbst.
Gleichzeitig wußte er, daß dies falsch war. Nur in der westlichen Welt blickte man herablassend oder verächtlich mitleidig auf alte Menschen herab. In anderen Kulturen wurde das Alter als die Lebensphase der abgeklärten Weisheit respektiert. Und Gedichte würde er schreiben, solange er lebte. Solange er einen Bleistift halten konnte und sein Kopf so klar war wie jetzt. Etwas anderes konnte er nicht, jetzt nicht mehr. Früher war er einmal ein tüchtiger Autoverkäufer gewesen, viel tüchtiger als andere Autoverkäufer. Er stand zu Recht im Ruf, bei Verhandlungen und Geschäften ein harter Knochen zu sein. Und ob er Autos verkauft hatte! In den guten Jahren hatte er Filialen in Tomelilla und Sjöbo gehabt. Er hatte sich ein Vermögen geschaffen, das es ihm erlaubte, sich das Leben zu leisten, das er führte.
    |22| Dennoch waren es die Gedichte, die ihm etwas bedeuteten. Alles übrige war flüchtige Notwendigkeit. Die Verse dort auf dem Tisch gaben ihm eine Zufriedenheit, wie er sie sonst kaum empfand.
    Er zog die Gardinen vor, so daß sie die großen Fenster bedeckten, vor denen die Äcker in weichen Wellen zum Meer hin abfielen, das irgendwo jenseits des Horizonts lag. Dann ging er zum Bücherregal. Neun Gedichtsammlungen hatte er in seinem Leben veröffentlicht. Da standen sie, Seite an Seite. Alle hatten sich nur in geringer Stückzahl verkauft. Dreihundert Exemplare, vielleicht manchmal ein paar mehr. Die restlichen lagen in Kartons unten im Keller. Nicht daß er sie dorthin verbannt hätte. Sie waren immer noch sein Stolz. Er hatte jedoch vor langer Zeit beschlossen, sie eines Tages zu verbrennen. Die Kartons auf den Hof hinauszutragen und ein Streichholz daran zu halten. An dem Tag, an dem er sein Todesurteil erhielt, an dem ein Arzt oder die eigene Vorahnung ihm sagten, daß das Leben bald vorbei wäre, würde er die dünnen Hefte vernichten, die niemand hatte kaufen wollen. Niemand sollte sie auf den Müll werfen.
    Er betrachtete die Bücher im Regal. Sein Leben lang hatte er Gedichte gelesen. Viele konnte er auswendig. Er hatte auch keine Illusionen. Seine Gedichte waren nicht die besten, die geschrieben wurden, aber auch nicht die schlechtesten. In jeder der Sammlungen, die im Abstand von ungefähr fünf Jahren seit dem Ende der vierziger Jahre erschienen waren, gab es einzelne Strophen, die mit nichts einen Vergleich zu scheuen brauchten. Aber er war Autohändler gewesen in seinem Leben, kein Dichter. Seine Gedichte waren nicht in den Feuilletons besprochen worden. Er hatte keine literarischen
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