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Wallander 06 - Die fünfte Frau

Wallander 06 - Die fünfte Frau

Titel: Wallander 06 - Die fünfte Frau
Autoren: Henning Mankell
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von oben, diese fünfte Frau zu ignorieren. Sie hatte sich in dieser schicksalhaften Nacht einfach nicht dort befunden. Ihr Bett war leer gewesen. Statt dessen hatte man sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben kommen und als namenlos und unbekannt in einem anonymen Grab beerdigen lassen. Ihre persönlichen Gegenstände waren beseitigt, ihre Spuren verwischt worden. Und hier kam Françoise Bertrand ins Spiel.
Man hatte sie eines frühen Morgens zu ihrem Chef gerufen
, schrieb sie in dem langen Brief,
und ihr den Befehl erteilt, sofort nach El Oued zu fahren.
Die Frau war zu diesem Zeitpunkt schon begraben. Françoise Bertrands Auftrag war, die letzten eventuell noch vorhandenen Spuren zu beseitigen und den Paß der Frau und ihre persönlichen Habseligkeiten zu vernichten.
    Anna Ander würde nie in Algerien eingereist sein und hätte sich nie dort aufgehalten. Sie würde aufgehört haben, als eine Angelegenheit Algeriens zu existieren – aus allen Registern gestrichen. Da hatte Françoise Bertrand eine Tasche gefunden, die von den nachlässigen Ermittlern nicht entdeckt worden war. Sie hatte hinter einem Kleiderschrank gestanden. Oder vielleicht hatte sie auf dem hohen Schrank gestanden und war später heruntergefallen, das konnte die Polizistin nicht klären. Aber in der |16| Tasche waren Briefe, die Anna Ander geschrieben oder zumindest begonnen hatte, und die waren an ihre Tochter gerichtet, die in einer Stadt mit Namen Ystad im fernen Schweden lebte. Françoise entschuldigte sich, diese privaten Papiere gelesen zu haben. Sie hatte einen versoffenen schwedischen Künstler, den sie in Algier kannte, um Hilfe gebeten, und er hatte die Briefe für sie übersetzt, ohne zu ahnen, worum es sich eigentlich handelte. Sie hatte die Übersetzung niedergeschrieben und nach und nach ein Bild gewonnen. Schon damals hatte sie unter schweren Gewissensqualen gelitten angesichts dessen, was mit dieser fünften Frau geschehen war. Nicht nur, weil sie so brutal ermordet worden war in Algerien, dem Land, das Françoise so sehr liebte, das aber von inneren Gegensätzen so schrecklich zerrissen war. Sie versuchte zu erklären, was in ihrem Land geschah, und sie berichtete auch etwas von sich selbst. Daß ihr Vater in Frankreich geboren, aber als Kind mit seinen Eltern nach Algerien gekommen war. Dort war er aufgewachsen, dort hatte er eine Algerierin geheiratet, und Françoise, das älteste ihrer Kinder, hatte lange Zeit das Gefühl gehabt, mit einem Bein in Frankreich und mit dem anderen in Algerien zu stehen. Aber jetzt zweifelte sie nicht mehr. Algerien war ihre Heimat. Und deshalb quälten sie die Gegensätze so, die das Land in Stücke zu reißen drohten. Deshalb wollte sie auch nicht dazu beitragen, ihre eigene Schande und die ihres Landes noch weiter zu vermehren, indem man diese Frau beseitigte, die Wahrheit in einem erdichteten Verkehrsunfall ertränkte und dann nicht einmal dazu stand, daß Anna Ander tatsächlich in ihrem Land gewesen war. Françoise Bertrand hatte schlaflose Nächte, schrieb sie. Schließlich hatte sie beschlossen, an die unbekannte Tochter der toten Frau zu schreiben und die Wahrheit zu berichten. Sie zwang sich, ihre Loyalität gegenüber der Polizei hintanzusetzen, und bat darum, ihren Namen nicht preiszugeben.
Ich schreibe die Wahrheit
, endete der lange Brief.
Vielleicht mache ich einen Fehler, wenn ich erzähle, was geschehen ist. Aber konnte ich etwas anderes tun? Ich fand eine Tasche mit Briefen, die eine Frau an ihre Tochter geschrieben hat. Ich erzähle nun davon, wie sie in meinen Besitz gekommen sind, und sende sie nur weiter.
    |17| Françoise Bertrand hatte die nicht zu Ende geschriebenen Briefe mitgeschickt.
    Auch Anna Anders Paß lag bei.
    Aber ihre Tochter las die Briefe nicht. Sie legte sie nur auf den Balkonboden und weinte. Erst im Morgengrauen erhob sie sich und ging in die Küche. Lange Zeit saß sie reglos am Küchentisch. Ihr Kopf war vollkommen leer. Aber dann begann sie zu denken. Alles kam ihr plötzlich ganz einfach vor. Sie sah ein, daß sie all diese Jahre nur gewartet hatte. Sie hatte es nur vorher nicht verstanden. Weder daß sie wartete, noch worauf. Jetzt wußte sie es. Sie hatte einen Auftrag, und sie mußte nicht mehr warten, um ihn auszuführen. Die Zeit war reif. Ihre Mutter war fort. Eine Tür war plötzlich weit aufgeschlagen.
    Sie stand auf und holte die Schachtel mit den zerschnittenen Zetteln und dem großen Logbuch aus einer Kiste unter dem Bett im Schlafzimmer. Sie
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