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Wallander 03 - Die weisse Löwin

Wallander 03 - Die weisse Löwin

Titel: Wallander 03 - Die weisse Löwin
Autoren: Henning Mankell
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entschlossen zu schießen, sobald sich die Möglichkeit bot. Es gab keinen Grund zu zögern. Er senkte die Waffe wieder und versuchte, die Schultern zu entspannen. Gleichzeitig atmete er ein paarmal tief durch. Er fühlte seinen Puls. Der ging normal. Alles war normal. Dann hob er das Gewehr erneut, legte den Kolben an die rechte Wange und kniff das linke Auge zu. Nelson Mandela stand jetzt vor dem Podium. Er war zum Teil von anderen Menschen verdeckt. Dann löste er sich aus seiner Umgebung und stieg zum Rednerpult hinauf. Er hob die Arme über den Kopf wie ein Sieger. Sein Lächeln war sehr breit.
    Sikosi Tsiki schoß.
    Den Bruchteil einer Sekunde, bevor die Kugel in irrsinniger Geschwindigkeit den Lauf verließ, fühlte er jedoch einen Schlag gegen die Schulter. Er konnte den Finger nicht mehr vom Abzug |538| nehmen. Der Schuß löste sich. Der Stoß hatte ihn nur etwa fünf Zentimeter zur Seite geworfen. Auf die große Entfernung bewirkte dies aber, daß die Kugel nicht einmal das Stadion traf, sondern auf einer weit entfernten Straße in ein geparktes Auto einschlug.
    Sikosi Tsiki drehte sich um.
    Dort standen zwei atemlose Männer und sahen ihn an.
    Beide hielten Pistolen in der Hand.
    »Leg das Gewehr ab«, befahl Borstlap. »Aber langsam und vorsichtig.«
    Sikosi Tsiki gehorchte. Es gab keinen anderen Weg. Die beiden weißen Männer würden nicht zögern zu schießen, das war ihm klar.
    Was war schiefgegangen? Wer waren sie?
    »Leg die Hände über den Kopf«, kommandierte Borstlap weiter und reichte Scheepers ein Paar Handschellen. Der trat vor und schloß sie um Sikosi Tsikis Handgelenke.
    »Aufstehen!«
    Sikosi Tsiki erhob sich.
    »Bring ihn zum Wagen«, sagte Scheepers. »Ich komme gleich nach.«
    Borstlap führte Sikosi Tsiki ab.
    Scheepers blieb stehen und lauschte dem Jubel aus dem Stadion. Er hörte Nelson Mandelas charakteristische Stimme aus den Lautsprechern schallen. Sie schien sehr weit zu reichen.
    Er war völlig verschwitzt. Immer noch spürte er die Angst, sie könnten zu spät kommen. Ein befreiendes Gefühl hatte sich noch nicht eingestellt.
    Er hatte soeben einen historischen Augenblick erlebt, aber einen, der unbekannt bleiben würde. Wenn er nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen wäre, wenn der Stein, den er in seiner Verzweiflung auf den Mann mit dem Gewehr geworfen hatte, sein Ziel verfehlt hätte, wäre es ein ganz anderer historischer Augenblick geworden, mehr als eine Fußnote der Geschichte. Dann hätte ein Blutbad daraus entstehen können.
    Ich bin selbst Bure, dachte er. Ich sollte diese wahnsinnigen Menschen verstehen. Auch wenn ich es nicht will, so sind sie |539| heute meine Feinde. Sie haben vielleicht im Innersten begriffen, daß Südafrikas Zukunft sie zwingen wird, alles in Frage zu stellen, was sie bisher als normal empfanden. Viele von ihnen werden das niemals akzeptieren. Sie wollen das Land lieber in Blut und Feuer untergehen sehen. Aber es wird ihnen nicht gelingen.
    Er schaute über das Meer. Zugleich überlegte er, was er Präsident de Klerk sagen würde. Auch Henrik Wervey wartete auf einen Bericht. Außerdem hatte er einen wichtigen Besuch vor sich, in einem Haus in Bezuidenhout Park. Er freute sich darauf, die beiden Frauen wiederzusehen.
    Was mit Sikosi Tsiki geschehen würde, wußte er nicht. Das war Kommissar Borstlaps Problem. Er verstaute das Gewehr und die Patronen in der Tasche. Das Gestell aus Leichtmetall ließ er liegen.
     
    Plötzlich kam ihm die weiße Löwin wieder in den Sinn, die im Mondlicht am Flußufer gelegen hatte. Er nahm sich vor, Judith vorzuschlagen, bald wieder in den Naturpark zu fahren. Vielleicht sahen sie die Löwin wieder.
    In Gedanken versunken machte er sich an den Abstieg.
    Er hatte etwas begriffen, was ihm bis dahin verborgen gewesen war.
    Endlich hatte er verstanden, was ihm die Löwin im Mondlicht hatte sagen wollen.
    Er war nicht in erster Linie Bure, ein weißer Mann.
    Er war Afrikaner.

|541| Nachwort
    Dieser Roman spielt zu gewissen Teilen in Südafrika, einem Land, das sich lange am Rande des Chaos befunden hat. Das innere menschliche und das äußere gesellschaftliche Trauma haben einen Punkt erreicht, an dem viele meinen, vor sich nichts anderes als eine unausweichliche apokalyptische Katastrophe zu sehen. Aber man kann auch dem Hoffnungsvollen nicht widersprechen: Das rassistisch regierte südafrikanische Imperium wird in absehbarer Zukunft fallen. Gerade in diesen Tagen, im Juni 1993, ist ein vorläufiges Datum für die
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