Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Waldesruh

Waldesruh

Titel: Waldesruh
Autoren: Susanne Mischke
Vom Netzwerk:
spontan neben sie setzte und den Arm um sie legte. Janna ließ es geschehen, falls sie es überhaupt bemerkte.
    »Was meint ihr mit Heim und Pflegefamilie?«, fragte Emily, doch im gleichen Moment wurde ihr klar, wie blöd die Frage war.
    »Oma hatte das Sorgerecht für uns«, sagte Marie nüchtern. »Mein Vater ist tot, unsere Mutter ist in der Psychiatrie. Wir haben sonst niemanden.«
    Wir haben sonst niemanden.
    Der Satz hallte in Emilys Kopf nach. Sie stellte sich vor, ihre Eltern und Verwandten wären plötzlich tot. In ihrer Brust wurde es eng, ihr wurde flau, ja geradezu übel.
    Von allen verlassen, wie musste das sein?
    Eine Minute verstrich, es war plötzlich ganz still im Garten. Kein Blatt raschelte im Wind, kein Vogel zwitscherte, die Welt schien den Atem anzuhalten.
    Als die Stille unerträglich wurde, sagte Emily: »Moritz sieht fern. Ich glaube, er hat gar nicht richtig begriffen, was passiert ist.«
    »Der hat es gut.« Marie seufzte schwer. »Wenn wir doch auch nur weitermachen könnten, als ob nichts geschehen wäre.« Sie zwirbelte eine ihrer dunklen Locken, dann gab sie sich einen Ruck. »Okay, es hilft ja nichts. Wollen wir das Jugendamt jetzt gleich anrufen?«
    Bei diesem Gedanken zuckte Janna zusammen, als hätte sie einen Stromschlag erhalten. Tränen blitzten zwischen ihren getuschten Wimpern, als sie rief: »Verdammt, ich will das nicht! Ich will nicht schon wieder Pflegeeltern, Heime, diese ganze Scheiße! Und der arme Moritz, der ahnt ja noch gar nicht, was wieder auf ihn zukommt. Er ist noch so klein – er wird seine ganze Kindheit und Jugend herumgeschubst werden, ich seh das schon kommen!« Janna hatte sich in ihre Verzweiflung hineingesteigert, sie legte Kopf und Arme auf die Knie, ihre Schultern bebten.
    »Ich will das doch auch nicht«, flüsterte Marie und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Emily verspürte den Wunsch, den Arm um sie zu legen, aber sie zögerte. Irgendwie kam sie sich im Augenblick ziemlich fehl am Platz und überflüssig vor, so als wäre sie Zeugin von etwas geworden, das sie nur zum Teil verstehen konnte.
    Marie hob den Kopf, ein trotziger Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich frag mich manchmal sowieso, wozu wir Erwachsene brauchen, die uns dämliche Vorschriften machen.«
    »Wie meinst du das?«, fragte Janna. Sie war aschfahl im Gesicht, ihre Wimperntusche war verschmiert.
    Marie biss sich auf die Lippen »Ich dachte nur, was wäre, wenn niemand von Omas Tod erfahren würde.«
    »Wie soll das denn gehen?«
    »Ich meine... Ach, vergiss es«, erwiderte Marie unwirsch. »Nur so ein Gedanke – ein Wunschtraum.«
    Janna schwieg einen Moment. Dann sah sie ihre Schwester mit einem merkwürdigen Blick an. »Ein Wunschtraum?«, fragte sie gedehnt. »Vielleicht . . . Aber vielleicht auch keine schlechte Idee. Wenn alles so bleibt, wie es ist...«
    ». . . dann müssten wir nicht ins Heim«, führte Marie den Satz zu Ende. »Wir könnten einfach hierbleiben.«
    Emily blickte von einer zur anderen.
    »Moment mal«, sagte sie erschrocken. »Das meint ihr doch nicht im Ernst, oder?«
    Die Schwestern blickten sie stumm an. In diesem Moment sahen sie sich unglaublich ähnlich, beide hochgewachsen und schmal, beide mit der gleichen verzweifelten Entschlossenheit im Blick.
    »Überlegt doch mal!« Emily sprang auf. »Das könnt ihr nicht machen! Ich meine, ihr braucht...zum Beispiel Geld.« Ihr fielen noch tausend andere Gründe ein, aber das war zumindest ein Anfang. »Wovon wollt ihr leben?«
    Janna, die plötzlich wieder Farbe bekommen hatte, sagte: »Wie jetzt auch: von Omas Witwenrente und unserem Kindergeld.«
    »Was Betrug wäre«, wandte Marie ein.
    »Nur, wenn man am Gesetz klebt. Wisst ihr, dass ein Heimplatz für ein Kind im Monat etwa dreitausend Euro kostet? Nein, von Betrug kann man da wirklich nicht sprechen, im Gegenteil, wir sparen dem Staat sogar Geld«, erklärte Janna und fuhr ganz aufgeregt fort: »Ich habe schon am EC-Automaten für Oma Bargeld geholt. Wir können uns also gut selbst versorgen.«
    »Was ist, wenn jemand kommt und eure Großmutter besuchen will?«, fragte Emily. »Was, wenn Lehrer nachfragen, Behörden, der Postbote, Freunde?«
    »Oma hatte nie Besuch«, antwortete Marie. »Sie hat auch nie etwas von Freunden erzählt. In den letzten zwei Jahren war kein Mensch hier, nicht wahr, Janna?«
    »Selbst der Postbote wirft nur die Briefe vorne an der Gartenpforte in den Kasten«, stimmte Janna ihrer Schwester zu. »Manchmal glaube ich, Oma hasst
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher