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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier
Autoren: Graham Swift
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Einwohner von Marleston und Umgebung mit ihren Poppys 1 im Revers im November dort einfanden, was sie sonst vielleicht nicht getan hätten. Die Luxtons kamen natürlich immer. George Luxton war (wobei Fred nicht vergessen wurde) der Held des Ortes, und niemand konnte leugnen (auch Jimmy Merrick von der nahe gelegenen Westcott Farm nicht), dass der Anspruch der Luxtons auf Ruhm in ihm begründet lag.
    Jetzt weiß nur noch Jack, wie Vera die Geschichte erzählt hat. Er hatte sie nie mit der von Tom verglichen. Andererseits hatte er keinen Grund anzunehmen, dass Tom nicht haargenau die gleiche Version erzählt bekommen hatte. Seine Mutter hatte ihm, Jack, die schlichten   – stolzen, ruhmreichen   – Tatsachen berichtet, eine Männergeschichte, von einer Frau erzählt. Und deshalb umso besser, wie Jack später dachte. Sein Vater hätte sie nur vermurkst. Und dabei hatte sie, wie eine gewissenhafte Kuratorin, die Medaille vor ihn hingelegt. Jack wusste nicht mehr, wie alt er damals gewesen war, jedenfalls zujung, um zu begreifen, dass es ein Initiationsritus war, der nur ihm allein galt. Wahrscheinlich war es Anfang November gewesen, um den Fünften herum, Guy Fawkes Day, wenn sie immer oben am Barton Field ein großes Feuer machten, nachdem sein Vater zuvor (damals bestand die Familie nur aus ihnen dreien) den aufgeschichteten Haufen mit Paraffin übergossen hatte. Deswegen war Remembrance Day für Jack immer mit Flammen und Feuerwerk verbunden.
    Wie alt er damals auch war, seine Mutter hatte die Tatsache, dass die Soldaten noch halbe Kinder waren, weder besonders hervorgehoben, noch heruntergespielt. Aber als sie geendet hatte, oder Jack dachte, sie habe geendet, hatte sie noch etwas hinzugefügt, das, wie ihm erst viel später klar wurde, allein von ihr kam. Das war die Geschichte von George und Fred, hatte seine Mutter gesagt, und so war es gewesen: George hatte die Medaille erhalten, aber sie waren beide tapfer. Und wenn, hatte seine Mutter gesagt, wenn die beiden Jungen (sie hatte erwähnt, dass sie kaum mehr als Jungen waren) nach dem Krieg wieder nach Hause gekommen wären, einer mit der Medaille, der andere ohne, dann wäre, davon war sie überzeugt, Folgendes passiert: Sie hätten, bevor sie in den Weg zur Farm einbogen, beim Tor an der Marleston Road angehalten, und George, der die Medaille trug, hätte sie aus seiner Tasche genommen und in zwei Teile gebrochen. Dann hätte er gesagt: »Bevor wir weitergehen, Fred   – dieses Stück ist für dich.« Und er hätte seinem Bruder die halbe Medaille gegeben. »Was mein ist, ist auch dein«, hätte er gesagt. Und dann wären sie in den Weg eingebogen.
    Seine Mutter hatte Jack diesen zusätzlichen, frei erfundenen Teil erzählt   – und das war das Außerordentliche daran   –, bevor Tom überhaupt geboren war, lange bevor irgendjemand auf den Gedanken kam, es würde, oder es
könnte
, einen Tom geben. Jack war Veras einziger Sohn. Das andere Außerordentliche war, dass man eine Medaille nicht entzweibrechen konnte. Das wusste Jack sehr gut. Jack hatte die Medaille damals in der Hand, seiner kleinen Kinderhand, gehalten. Er hatte sie erst kürzlich wieder in seiner inzwischen viel größeren Hand gehalten. Und was damals zutraf, traf noch immer zu. Man konnte sie nicht zerteilen. Sie war aus Silber. Man konnte sie selbst dann nicht zerteilen, wenn man sie mit der stärksten Zange bearbeitete.
    Aber seine Mutter hatte gesagt, was für eine Tafel Schokolade gelte, könne ebenso gut für eine Medaille gelten.
     
    Das letzte Mal, dass Jack am Kriegerdenkmal in Marleston gestanden hatte, eine Poppy am Revers, war im November 1994 gewesen, und er hat allen Grund, sich daran zu erinnern, ganz abgesehen davon, dass es Remembrance Day war. Sein Vater war mit ihm da   – oder vielleicht war es auch andersherum   –, aber Tom war nicht dabei, und es war das erste Mal, dass er fehlte. Dass Tom, der in wenigen Wochen neunzehn geworden wäre, nicht mehr da war, lag an dem einfachen, aber an einem solchen Tag äußerst komplizierten Grund, dass er zur Armee gegangen war.
    Es machte die unausweichliche jährliche Teilnahme bei dem Gedenkgottesdienst unbequem, um es mildeauszudrücken, doch das war bei weitem nicht die einzige Bürde an diesem elenden Tag.
    Auch Vera war nicht dabei. Damals war sie schon seit fünf Jahren tot. Sie war auf dem nahe gelegenen Friedhof begraben, und es gehörte zu dem Remembrance Day-Ritual der Luxtons, nach dem Gottesdienst zu ihrem
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