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Wärst du doch hier

Wärst du doch hier

Titel: Wärst du doch hier
Autoren: Graham Swift
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zur gleichen Zeit zu hören bekamen. Aber nach Toms Geburt erhielt die Geschichte doppelte Kraft, weil sie von zwei Brüdern handelte. Hauptsächlich war es Veras Aufgabe, die Geschichte zu erzählen, sie nach Gutdünken zu gestalten   – obwohl es nicht allzu viel gab, woran man sich halten konnte   –, damit sie für die Ohren kleiner Jungen geeignet war. Vielleicht wusste ihr Vater mehr, aber in Wahrheit hatte niemand, obwohl die Geschichte buchstäblich in gravierter Form existierte, die vollständigen Fakten besessen.
    Es gab eine Medaille, die im Wohnhaus der Jebb Farm aufbewahrt wurde, im sogenannten großen Schlafzimmer: eine Silbermedaille mit dem Kopf des Königs an einem rot-blauen Band. Einmal im Jahr, im November, wurde sie ausgepackt und poliert (von Vera, bis zu ihrem Tod). Jackund Tom waren jeder, ebenfalls von Vera, zu einer eigenen, privaten, rituellen Besichtigung eingeladen worden. Außerdem konnte jedermann sehen, dass auf dem Kriegerdenkmal vor der All Saints Kirche in Marleston bei den sieben Namen unter den Jahreszahlen 1914   –   18 zweimal der Name Luxton vorkam: F.C.   Luxton und G.   W.   Luxton, und dass nach dem Namen G.   W.   Luxton die Buchstaben DCM (Distinguished Conduct Medal) standen.
     
    Einst, vor nahezu einem Jahrhundert, als auf den Wiesen im Tal der Somme Wildblumen blühten und Insekten summten, starben zwei Luxton-Brüder an ein und demselben Tag im Juli. Als sie fielen, sollte der eine, obwohl er es niemals erfahren würde, eine Medaille für ehrenhafte Führung verliehen bekommen, während der andere einfach von Gewehrkugeln zerfetzt wurde. Captain Hayes, ihr Kommandant und Zeuge dieses Akts herausragender Tapferkeit, brachte den Vorfall am selben Abend mitsamt seiner Empfehlung zu Protokoll, in der Hoffnung, dass dieser Tag der Unaussprechlichkeiten zu etwas Gutem   – falls man das überhaupt sagen konnte   – führen würde. Doch obwohl er wusste, dass zwei Luxtons, George und Fred, seinem Kommando unterstanden, hatte er nie genau gewusst, wer von beiden welcher war. In voller Uniform und mit den Helmen auf sahen sie aus wie eineiige Zwillinge.
Alle
, dachte er manchmal, sahen sie aus wie eineiige Zwillinge.
    Aber jetzt waren die beiden Brüder Luxton gleichermaßen tot. Deshalb hatte er sich für George entschieden (für den mit dem patriotischeren Namen) und wollte am nächsten Morgen, falls er Gelegenheit hatte, den Tatbestandüberprüfen, bevor sein Bericht abgeschickt wurde. Er hatte sich an dem Abend um vieles andere kümmern müssen. Und dann hatte er dazu keine Gelegenheit mehr, denn um sieben Uhr morgens (auch dies ein strahlender Sommertag, mit Lerchen in der Luft), kurz nachdem er abermals zum Angriff geblasen hatte, einen unnützen, weiter oben an der Front bereits rückgängig gemachten Befehl ausführend, war auch Captain Hayes tot.
    Es war also George, und nicht Fred, der die DCM bekam   – die im Rang (wie Vera gern betonte) nur eine Stufe unter dem Victoria Cross stand   –, und keiner der Brüder würde dagegen etwas einwenden.
    Kein Mitglied der Familie Luxton, ob damals überlebend oder später geboren, hatte je Anlass, das zu bezweifeln, was in der Widmung und in Stein gemeißelt verbürgt war. Niemand hatte es bestritten, obwohl auch niemand behauptet hatte, Fred sei ein Drückeberger gewesen. Sie waren beide Helden, sie hatten sich freiwillig gemeldet und waren für ihr Land gestorben. Es war die allgemeine und unausgesprochene Überzeugung der langsam schrumpfenden Gruppe, die sich jeden November um das Kriegerdenkmal in Marleston versammelte, dass alle sieben Namen die Namen von Helden waren. Viele, die nicht dort verzeichnet waren, galten ebenfalls als Helden. Vielleicht bestand eine gewisse gemeinschaftliche Verlegenheit hinsichtlich der Namen ortsansässiger Familien auf dem Denkmal   – nur der Name Luxton kam zweimal vor   –, und vielleicht sogar eine besondere Verlegenheit hinsichtlich der DCM von George   – als hätte er nur nach besonderer Aufmerksamkeit heischen wollen, indem er ein feindliches Maschinengewehr erobert undsich damit einer unglaublichen Übermacht erwehrt hatte (so hatte Captain Hayes geschrieben), bis er im Kreuzfeuer niedergemäht wurde. Aber andererseits hätte es von äußerst schäbiger Gesinnung gezeugt, eine Tat nicht als das zu ehren, was sie war. George Luxton und seine DCM waren nämlich der Grund, warum sich   – sogar noch lange nach dem nächsten Weltkrieg   – viele
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