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Wäre ich du, würde ich mich lieben (German Edition)

Wäre ich du, würde ich mich lieben (German Edition)

Titel: Wäre ich du, würde ich mich lieben (German Edition)
Autoren: Horst Evers
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alle. Natürlich sind sehr persönliche Dinge wie Zahnarzt- oder Friseurtermine oder auch sexueller Kontakt mit Freund oder Freundin bei dieser Tagestauschbörse tabu. Obwohl solche Extremvarianten inzwischen auch schon mal angedacht wurden.
    Klingt verlockend. Für einen Tag praktisch mal mit jemandem das Leben tauschen. Bei voller Rückgabegarantie. Ich war genau so lange begeistert, bis plötzlich eine der Mails von Mara versehentlich mit «José» unterschrieben ist. Unglaublich, aber wahrscheinlich hat sie tatsächlich unsere Verabredung, also quasi mich, weggetauscht. An einen spanischen Germanistikstudenten.
    Was sie wohl für mich bekommen hat? Hoffentlich was genauso Schönes.

Das Wittener Raum-Zeit-Phänomen
    Freitagmorgen, 10 . 30 Uhr. Sitze am Hauptbahnhof in Witten und warte auf die S-Bahn. Eigentlich habe ich auf die Regionalbahn gewartet, aber die fährt nicht, wegen Lokführerstreik. Deshalb warte ich jetzt auf die S-Bahn. So lange, bis durchgesagt wird, dass auch die nicht fährt, wegen Lokführerstreik. Dann warte ich wieder auf die Regionalbahn.
    Das geht jetzt seit 8 . 30 Uhr so. Ich weiß nicht, wer schon einmal am Hauptbahnhof Witten war und da zwei Stunden auf Züge, die nicht kommen, gewartet hat. Man muss wissen, Attraktionen im engeren Sinne hat der Hauptbahnhof Witten eher wenige. Genaugenommen hat er nur eine Attraktion. Nämlich Züge, die vom Hauptbahnhof Witten wegfahren. Wer schon einmal zwei Stunden ohne abfahrende Züge am Hauptbahnhof Witten verbracht hat, der weiß, er wird nie wieder in seinem Leben den wunderschönen Satz sagen können: «Mir war noch nie so langweilig.»
    Der Mann neben mir, der seit anderthalb Stunden völlig regungslos auf der Bank sitzt und auf die Schienen starrt, holt plötzlich einen Handspiegel raus und hält ihn sich vors Gesicht. Wahrscheinlich um zu gucken, ob er noch atmet. Als der Spiegel beschlägt, höre ich ihn enttäuscht seufzen. Er steckt den Spiegel wieder ein. Dafür redet er mit einem Mal: «Wenn unsere Erde wirklich nur ein Staubkorn im Universum ist, dann könnte meinetwegen jetzt mal wirklich einer putzen kommen.»
    Danach kippt er zur Seite. Wahrscheinlich ist er nun doch endlich tot. Zumindest lächelt er. Na ja, immerhin hatte er einen schönen letzten Satz. Etwas weiter vorne, in den Bahnsteigbereichen A und B, liegen auch schon ein paar Fahrgäste.
    Laut Stephen Hawking kann Zeit, wenn sie zum völligen Stillstand kommt, implodieren und sogar Materie zerstören. Wodurch dann diese Raum-Zeit-Löcher oder Anomalien entstehen. Kannste mal sehen. Hätte nie gedacht, dass ich bei so einem astrophysischen Phänomen mal dabei sein würde. Erst recht nicht hier, auf dem Hauptbahnhof Witten.
    Wenn nicht bald ein Zug kommt, wird es wohl kaum Überlebende geben. Das Service- und Reinigungspersonal vor dem Hauptgebäude guckt auch schon genervt. Vermutlich weil so eine Aus-Langeweile-Sterberei hier in Witten nicht das erste Mal passiert.
    Sollte mir vielleicht langsam mal einen Satz überlegen, den ich als letzten sagen könnte. Vielleicht so etwas wie: «Auf Gleis 3 hält jetzt Einfahrt der Regionalexpress nach Essen.»
    Ja, das ist ein verdammt guter letzter Satz. Stelle fest, ich habe ihn gar nicht nur gedacht, er ist sogar aus den Lautsprechern gekommen.
    Wahrscheinlich habe ich das kraft meines Geistes ausgelöst. Konnte ich womöglich, weil das Raum-Zeit-Kontinuum bereits beschädigt war. Und da fährt der Zug auch schon ein. Alle Toten stehen wieder auf und steigen in die Waggons. Als wäre nichts gewesen. Wahnsinn! Wahrscheinlich habe ich die jetzt alle gerettet. Mit meinem Satz habe ich alle gerettet! Aber meinste, da bedankt sich mal einer? Kannste lange warten.

Man weiß ja, wie die Leute sind
    Mein Vater sagte immer, in Berlin würde er nun wirklich nicht leben wollen. Das könne er sich nicht vorstellen. Dort würde er sich niemals wohl fühlen.
    Grund zu dieser Meinung gaben ihm allerdings nicht die Größe, der viele Verkehr, die Hektik, die Anonymität oder die Schroffheit Berlins. Auch nicht die Luft, die so viel schlechter als in seinem niedersächsischen Dorf war, oder der ständige Lärm. Nein, der tiefere Grund, weshalb er fest davon überzeugt war, niemals auf Dauer in Berlin leben zu können, lag in einem Erlebnis während seines ersten Besuchs bei mir, Ende der achtziger Jahre. Damals hatte er mir, knapp ein Jahr nach meinem Umzug, noch letzte Dinge nach Berlin gebracht. Gegenstände, die ich, wie er fand, dringend
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