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Wächter des Elfenhains (German Edition)

Wächter des Elfenhains (German Edition)

Titel: Wächter des Elfenhains (German Edition)
Autoren: Susanne Gavénis
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ihm heruntergebeugt, schien wieder einmal die Unterwerfung seines Gegners mit der schieren Masse seines gewaltigen Körpers herbeizwingen zu wollen. „Glaubst du im Ernst, ich lasse mich von dir für dumm verkaufen?“
    Die Wolke aus Zorn wurde heiß, brannte wie kochender Teer auf seiner Haut. Andion schluckte. Der Geschichtslehrer war zweifellos in noch üblerer Stimmung als sonst, und er schien entschlossen, ihn dafür büßen zu lassen.
    „Aber vielleicht ist dir ja die Bedeutung des Wortes Schule entgangen. Schule ist nicht der Ort, an dem man nach einer durchzechten Nacht seinen Rausch ausschläft. Und es ist nicht der Strand von Malibu, wo halb nackte Blondinen in ihren Bikinis vor dir herumhüpfen und du dich an deinen feuchten Träumen delektierst!“
    Dornen aus schwarzem Feuer bohrten sich in sein Fleisch, sengten eine Spur aus kochender Dunkelheit in seinen Geist. Verzweifelt rang Andion nach Luft.
    Mr. Colegrave fixierte ihn mit dem kalten Blick einer Schlange, die wusste, dass ihre Beute unwiderruflich in der Falle saß und nichts mehr tun konnte, um den zustoßenden Giftzähnen noch zu entkommen. „Aber niemand soll behaupten, ich hätte kein Herz für die Einfältigen und Verwirrten. Heute ist dein Glückstag, McKay! Ich werde deinem Gedächtnis ein wenig auf die Sprünge helfen.“ Andion spürte, wie sich die Lippen des Lehrers erneut zu seinem widerwärtigen Haifischgrinsen verzogen. „Also, bis zur nächsten Stunde will ich 20 Seiten von dir sehen, 20 Seiten über die Bedeutung des Götterpantheons für das soziale Leben der griechischen und römischen Gesellschaft. Natürlich wirst du aus Respekt vor dem kulturellen Erbe unserer Vorfahren auch diesmal den dekadenten Verlockungen der modernen Technik widerstehen und wie jedes vernunftbegabte Lebewesen in den letzten 5000 Jahren für deine historische Expertise ein schnödes Blatt Papier und einen Stift benutzen. Und da wir gerade dabei sind, du hast mir deine letzte Ausarbeitung noch nicht gezeigt!“
    Auch eine Strafarbeit, ebenfalls über das Thema Mythologie. Darum drehte sich zurzeit alles in Mr. Colegraves Unterricht. Tragischerweise war gerade das eine Leidenschaft, die Andion mit dem Geschichtslehrer teilte, und hätte der Unterricht draußen auf dem sonnengewärmten Rasen statt im Betonsarg des alternden Schulgebäudes stattgefunden, hätte er Mr. Colegrave bewiesen, dass er tatsächlich Freude am Lernen hatte.
    Hastig kramte er die zehn eng beschriebenen Seiten aus seiner Tasche hervor und schob sie in Richtung des hasserfüllten Brodems, der lauernd wie ein hungriger Schakal vor ihm in der Luft schwebte. Noch immer hielt er seinen Blick gesenkt, wagte nicht aufzusehen.
    Sein Aufsatz wurde ihm aus den Händen gerissen, dann herrschte einige Sekunden lang bedrohliche Stille. Andion erkannte an der boshaften Genugtuung, die plötzlich von dem Lehrer ausstrahlte, dass dieser sofort mit der Lektüre begonnen haben musste – natürlich, schließlich würde er sich eine derart vortreffliche Gelegenheit, ihn zu demütigen, keinesfalls entgehen lassen.
    Er spürte, wie seine Handflächen vor Nervosität feucht wurden. Vielleicht hätte er doch lieber etwas aus einem Buch abschreiben sollen, aber dazu hätte er zuerst in die Bücherei gehen und dort nach passendem Material suchen müssen, denn Bücher waren leider so ziemlich das Letzte, was in den Schränken ihrer kleinen Wohnung zu finden war. Auch dies war etwas, das er schon seit vielen Jahren zu akzeptieren gelernt hatte. Es war gefährlich, zu sehr an den Dingen zu hängen. Ein Moment der Unentschlossenheit, ein Augenblick des Zögerns bei der Entscheidung, was zurückgelassen oder besser mit ein paar hastigen Handgriffen in eine ihrer Reisetaschen gestopft werden sollte, mochte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten, wenn sie das nächste Mal ihr Versteck wechseln mussten.
    Blieb also nur die Bibliothek. Die aber lag in einem der modernsten Gebäude der Stadt – einem gewaltigen Koloss aus Stahl und Glas, der ihm schon beim bloßen Anblick die Luft knapp werden ließ. Dort hineinzugehen wäre ebenso selbstzerstörerisch gewesen, wie von einer zehn Meter hohen Brücke zu springen – wobei er die Brücke jederzeit vorgezogen hätte.
    Also hatte er stattdessen aus einer anderen Quelle geschöpft – aus dem unendlichen Fundus an Geschichten, die sein Vormund Ian ihm erzählt hatte, damals, in den dunklen, einsamen Stunden seiner Kindheit, als das zunehmende Wissen um den
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