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VT10 - Tod im Blut

VT10 - Tod im Blut

Titel: VT10 - Tod im Blut
Autoren: Claudia Kern und Stephanie Seidel
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Manchmal rissen sie Blattwerk ab und warfen es der jungen Banzulu an den Kopf, gelegentlich zwitscherten sie auch eine Drohung heraus.
    Auf einmal waren sie fort, still wie ein Spuk. Nikali blickte verwundert nach oben. Hier und da bebte das dichte Laubwerk, aber von den Lemuurs selbst war nichts zu sehen. Dafür begannen Vögel zu kreischen, und ihr harter Flügelschlag zeugte von einer hastigen Flucht aus den Wipfeln. Federn schwebten herab.
    Nikali glaubte, dass irgendwo eine Würgeschlange unterwegs war, auf der Jagd nach Nestern und jungen Meerkatzen. Wenigstens wollte sie das glauben, denn hinter ihr waren Geräusche im Busch. Sie klangen anders als die üblichen Laute der Wildtiere, eher wie schwere Tritte, und wenn sich die junge Banzulu nach ihnen umdrehte, wankte manchmal ein Schatten zwischen den Baumstämmen her.
    Alles nur Einbildung!, sagte sie sich. Nikali hätte natürlich auf einen Baum klettern können, um zu warten, bis es heller wurde und das Düstere nicht mehr bedrohlich wirkte. Doch wozu? Schatten besaßen nur Macht, wenn man es ihnen erlaubte. Das predigte die Geisterfrau bei jeder Gelegenheit – und die musste es wissen!
    Trotzdem beschleunigte Nikali ihre Schritte. Weiter vorn fiel Licht durch die Baumkronen. Es holte ein Pflanzenpolster aus der Dunkelheit, das viel versprechend aussah. Als sich die Sechzehnjährige davor hinkniete, spürte sie ein Kribbeln im Nacken, unangenehm wie der Blick fremder Augen. Es beunruhigte sie, schließlich hatte außer ihr an diesem Morgen noch niemand das Dorf verlassen.
    Urplötzlich traten zwei Füße auf die Kräuter, und Nikalis Kopf ruckte hoch. Der Mann war ein Fremder. Er sah aus wie eine faulende Leiche.
    »Wer… wer bist du?«, stammelte die Sechzehnjährige erschrocken.
    »Gruuuh«, machte er und schmetterte ihr einen Stein an die Schläfe.
    Glitzernde Schleimfäden trieften aus dem Mund des Gruh.
    Sie schaukelten im Takt, während er wieder und wieder auf Nikalis Kopf einschlug. Für ihn war das Mädchen kein Mensch, nur ein Fruchtgefäß. Eine Hülse, die er aufbrechen musste, um an den leckeren Kern zu gelangen.
    Fressen! Er war vom Weg abgekommen auf der Suche danach, hatte sich zu weit von den anderen entfernt und sie aus den Augen verloren.
    Fressen! Sein Inneres krampfte vor Hunger. Wie lange war es her, dass er sich das letzte Mal satt gefühlt hatte? Wann hatte er das letzte Mal überhaupt etwas gefühlt? Er wusste es nicht mehr.
    Manchmal flackerte sein verrottender Geist noch auf, wie ein Wetterleuchten, und in solchen Momenten begriff er, dass sich die Pforte zum Reich des Vergessens bereits hinter ihm schloss. Er war mal jemand gewesen, besaß einen Namen. Und ein Leben. Doch was immer ihm einst gehörte, er hatte es verloren – auf den blutigen Feldern von Kilmalie.
    Ungeschickt wuchtete er die Leiche hoch. Ihr zertrümmerter Schädel fiel nach hinten. Mit einer Hand, die vor Hunger zitterte, griff der Gruh in den geöffneten Kopf. Er kaute kaum, verschlang vielmehr jedes abgerissene Stück, als wäre er von Futterneidern umlagert.
    Doch es gab keine, und das wurde ihm plötzlich bewusst, denn der Verzehr des fremden Hirns holte sein eigenes kurzfristig aus der Lethargie.
    Wer bin ich? Was tue ich hier? Er starrte auf seine verschmierten Hände, roch daran.
    Sein Blick wanderte über den Körper der Toten. So ein schönes, junges Ding! Es war bedauerlich, wie alles Leben unter seinen Händen zerbrach. Doch was sollte er machen? Er hatte Hunger!
    Ich will endlich einmal satt sein, dachte er. Doch der Hunger hörte nicht auf. So erhob sich der Gruh vom Blut getränkten Boden und trottete los. Er musste weiter suchen, weiter töten, um nicht selbst zu sterben. Vielleicht gab es ja Nahrung jenseits des Waldes. Ein paar Leute vielleicht.
    Oder ein Dorf…
    ***
    Dr. Aksela war beinahe erleichtert, dass Marie nach dem Gespräch wieder bewusstlos zu werden schien. Zumindest schloss sie die Augen und rührte sich nicht mehr.
    Und jetzt, wo ihre Wut etwas verraucht war, war die Ärztin eher imstande, die Lage der Prinzessin und der Stadt Orleans-à-l’Hauteur zu überdenken.
    Das Heer der Gruh war ausgelöscht worden – gefressen von einem Frakkenschwarm. Damit war die größte Gefahr für die Bevölkerung gebannt – vorerst, bis neue Gruh aus den Tiefen der Erde strömten. Wer wusste denn, wie viele noch in der Großen Grube lauerten, ob nicht bereits weitere zu den Dörfern unterwegs waren. Und jeder, der von ihnen nur verletzt und
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